„Blick in die Tiefen der menschlichen Seele“
Zum 350. Todestag: Rembrandts sämtliche Gemälde
Von Johannes Vesper
Wie viele sind es? Mehr als 600? In das jetzt vorgelegte Werkverzeichnis Rembrandts wurden 330 Gemälde aufgenommen. Das Rembrandt Research Projekt (1983-2015) versuchte systematisch, das Werk dieses großen Malers zu identifizieren und zu analysieren. Der berühmte „Mann mit dem Goldhelm“ stammt danach nicht von ihm. Bei der Vielzahl der Schüler, die in seiner Werkstatt gearbeitet haben, fällt die Zuschreibung der Gemälde nicht leicht. „Verschiedene seiner Bilder wurden damals schon für echte Gemälde Rembrandts gehalten und verkauft“. Kunstfälschung ist keine Erfindung der Moderne.
Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606-1669), schon zu seinen Lebzeiten ein Malerfürst, einer der „größten Maler aller Zeiten“ (E. Gombrich), hat keine Notizbücher hinterlassen wie Leonardo, keine Schriften oder Gedichte wie Michelangelo, überstrahlte allein mit seinen Gemälden und Zeichnungen das an großen Malern reiche 17. Jahrhundert ( Frans Hals 1581/85-1666), Johannes Vermeer (1632-1675), Anthonis van Dyk 1599-1641, Diego Velázquez 1599-1660) und fasziniert noch 350 Jahre nach seinem Tode. Die Ausstellungen im Gedenkjahr (Rijksmuseum Amsterdam, Hamburg, Kassel) lockten zahllose Besucher. In seinen Bibelszenen, Porträts und mythologischen Szenen interessiert ihn vor allem das Emotionale der Darstellung. Der Wahnsinn im Blick König Sauls, Jakobs Gesicht, wenn er seine Träume erzählt, die existentielle Unsicherheit der menschlichen Existenz (Christus im Sturm des See Genezareth) machen deutlich: hier „blickt sein ruhiges Malerauge geradewegs in die Tiefen der menschlichen Seele“ (E. Gombrich) und bei der Eselin des Bileam (1626 Musée Cognac-Jay) auch in die der tierischen. Wirtshaus, Haushalt, Familie, bäuerliches Leben überließ er anderen, z.B. dem jüngeren Jan Steen (1626-1679) mit seinen sprichwörtlich chaotisch-häuslichen Szenen. Landschaften malte Rembrandt im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Salomon van Ruysdael (1601-1670) nur wenige (insgesamt sieben).
In Leiden, wo er am Ufer des Flüßchens Rijn aufgewachsen war, besuchte er die Lateinschule, ging zu Jacob Isaacszoon van Swanenburgh in die Lehre, lernte zeitweise auch bei Pieter Lastmann, eröffnete in seiner Heimatstadt ein erstes Atelier, bevor es ihn in die große und reiche Handelsstadt Amsterdam zog. In der Kunstszene dort fand er weit größere Resonanz und seit ca. 1632 im Hause des berühmten Kunsthändlers Hendrick Uylenbruck das Publikum, welches porträtiert werden und dafür auch zahlen wollte. Außerdem verliebte er sich in Saskia. Die aus Friesland stammende Kusine Uylenbrucks hatte er bei ihrem Verwandtschaftsbesuch in Amsterdam kennengelernt. Bald besuchte er sie in ihrem Heimatdorf, porträtierte sie und verlobte sich mit ihr. Natürlich fungierte sie von da ab auch als Modell. Mit ihrer Darstellung als alttestamentarische Judith - abgeschlagenes Haupt des Holofernes in der linken, blutiges Schwert in der rechten Hand -, war Saskia aber nicht einverstanden. Jedenfalls wurde nach Übermalung aus ihr die Göttin der Jugend mit Blumenbukett und umkränztem Stab (Flora 1635). In dem Bild „Der verlorene Sohn im Wirtshaus mit Saskia“ (1635) zeigt sich das Lebensgefühl des Paares, wenn er, lachend, mit seiner Hand auf ihrem Rücken, und sie auf seinen Schoß sich zurück zum Betrachter wenden. Den Lebensstil der beiden scheint die Verwandtschaft Saskias mißbilligt zu haben. Es gab eine gerichtliche Auseinandersetzung bezüglich der Behauptung derselben, Saskia habe das Erbe ihrer Eltern vergeudet.
Bald nach der Umsiedlung erhielt er den Auftrag für seine berühmte „ Anatomie des Dr. Tulp“ (1634). Seit 1555 veranstalteten die Wundärzte in Amsterdam öffentliche Sektionen an Leichen hingerichteter Verbrecher. Es handelt sich um ein Gruppenporträt. Die hier verewigten Ärzte, die sich voller Interesse zum Präparat hin beugen, sind alle namentlich bekannt, wie auch der Verbrecher (Aris Kindt), dessen rechter Unterarm zunächst als Stumpf (Folge einer früheren Verurteilung?) gemalt worden war und erst später mit der Hand vervollständigt worden ist. Seziert wird auf dem Bild der linke Arm. Die Plastizität, Strahlkraft und Intensität der Gesichter wird durch atmosphärische Perspektive, durch „zartes Verblauen“ des unschärferen Hintergrundes gesteigert. Auf einem zweiten Bild („Die Anatomie des Dr. Jan Deymann“ 1656) schockiert den Betrachter der Blick vorbei an den dreckigen Füßen des Toten direkt in die geöffnete Bauchhöhle und auf die Hirnoberfläche zwischen dem nach beiden Seiten herabhängenden Skalp. Das entfernte Schädeldach hält der Sektionsassistent in Händen. Das Bild wurde bei einem Brand schwer beschädigt, weswegen ursprünglich dargestellte Personen teilweise fehlen.
1642 entstand die berühmte „Nachtwache“. Hier übergibt Hauptmann Frans Banninck mit einer Gebärde seiner linken Hand das Kommando der Bürgerwehr Amsterdams an seinen Nachfolger, während die Schützen den Aufbruch der Truppe erwarten. Mit seiner Dramatik und Lichtregie, der lebendigen Verteilung von Haupt- und Nebenpersonen erscheint dieses Gruppenporträt wie Schnappschuß vom Theater. Hinter den zahlreichen Details, wie z.B. Schatten der Hand der Hauptperson auf dem gelben Rock des neuen Kommandanten, der Büchsenblitz hinter seinem Hut, oder das Stopfen des Vorderladers links vorne scheinen die Porträts der einzelnen dargestellten Schützen fast weniger wichtig als die gesamte Szene.
In Amsterdam arbeitete Rembrandt sehr erfolgreich, verkaufte seine Porträts und Historienbilder zu hohen Preisen. Dabei war seine Malweise nicht unumstritten. Joachim von Sandrart, der Verfasser einer ersten deutschen Kunstgeschichte (Teutsche Academie von 1675), lebte um 1640 für einige Zeit in Amsterdam und schätzte Rembrandts Malweise weniger, mokierte sich über Verstöße gegen Perspektive und Natur. Rembrandt konnte 1639 für immerhin 13.000 Gulden ein großes Haus, in dem heute das „Rembrandthaus“ untergebracht ist, erwerben. 1640 wurde sein Sohn Titus geboren. Er war das einzige von vier Kindern Rembrandts mit Saskia, das das Erwachsenenalter erreichte. Am 05.06.1662 verstarb Saskia vermutlich an Tuberkulose.
Rembrandts Produktivität ließ nach dem Tode Saskias nach, vielleicht auch deshalb, weil zahlreiche Schüler bei ihm lernen wollten und dafür auch zahlten. Rembrandt sammelte Kunst und Antiquitäten mit System. Er verfügte wohl über die bedeutendste Sammlung von Druckgrafik in Amsterdam, die er in 90 Kunstbüchern aufbewahrte. Die Ordnung seiner großen Sammlung mutete nahezu modern an. Rembrandt, obwohl Sandrart bemängelt hat, daß er Italien nie besucht habe, kannte als Sammler die Bilder und Grafiken Michelangelos, Raffaels, Tizians, der Caraccis, natürlich auch Caravaggios, mit dessen Hell-Dunkel-Malerei er sich stark auseinandergesetzt hat. Die Werke der Vorgänger interessierten ihn sehr und seine Malerei ist natürlich dadurch beeinflußt worden. Schon Karel van Mander in seinem Schilderboeck von 1604 hatte jungen Künstlern ans Herz gelegt, sich mit Vorbildern auseinander zusetzen und ihnen für ihre Malerei gleichnishaft empfohlen, daß „das Kochen von verschiedenstem Gemüse ein gute Suppe ergebe“.
Rembrandt begann nach dem Tode Saskias ein Verhältnis mit der jungen verwitwete Haushälterin Geertje Dircks, die schon zu Lebzeiten Saskias im Haushalt lebte und den Sohn Titus betreute, den sie später als ihren Erben einsetzte. Das eheähnliche Verhältnis endete 1648 nach Gerichtsverfahren unerfreulich mit Unterhaltszahlungen. Rembrandt verliebte sich alsbald in die 22jährige Hendrickje Stoffels, die inzwischen als Dienstmädchen im Haushalt lebte und bald schwanger von ihm wurde. Wegen des unehelichen Zusammenlebens mußte sie sich vor dem reformierten Rat der Gemeinde rechtfertigen. Ob die Badende Frau (1654) Hendrickje darstellt? Ein Porträt von ihr ist nicht eindeutig gesichert.
Persönlich glücklich mit seiner ca. 20 Jahre jüngeren Lebensgefährtin, malte Rembrandt jetzt wieder „ohne jede Pause“ (Baldinucci), „fleißig und unverdrossen“ (Sandrart). Trotzdem konnte er 1553 Steuern nicht bezahlen, mußte sich weiter verschulden, seine Sammlungen verkaufen und 1656 die Insolvenz erklären. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Amsterdam waren durch den Englisch-Niederländischen Handelskrieg 1652-54 mit Wirtschaftsblockade der Niederlande erheblich beeinträchtigt, niemand kaufte mehr Bilder. Die Preise purzelten. Im Zuge der Insolvenz war Rembrandts Vermögen genau aufgelistet und so der Umfang seiner Sammlungen gut dokumentiert worden. Das Haus mußte verkauft werden. Hendrickje gründete mit Sohn Titus eine Handelsgesellschaft, Man verkaufte Gemälde und Druckgrafik. Rembrandt wurde als Angestellter geführt. In seinen letzten Lebensjahren spielt Tizian (1488(1490?)- 1576) für die Malerei Rembrandts eine wichtige Rolle. Verwandte Bildmotive weisen bei auch ähnlichem Malstil mit rauen, groben Pinselstrichen darauf hin.
Er erhielt Aufträge aus Italien und Prinz Cosimo III. de Medici ließ es sich nicht nehmen, den berühmten Maler Rembrandt in seinem Atelier zu besuchen. Auch das Malen von Selbstporträts nahm er in seinen letzten Lebensjahren wieder vermehr auf. Er wußte, daß Kunstliebhaber seine Selbstporträts schätzten. Nach dem Tod von Hendryke im Sommer 1663 - vermutlich verstarb sie an der Pest - blieb Rembrandt allein, lebte bescheiden, „nahm beim Arbeiten oftmals ein Stück Käse und Brot oder einen Salzhering zu sich“. Seine finanzielle Situation blieb instabil. Das letzte Selbstbildnis (1669, Mauritshuis Den Haag) zeigt ihn als Brustbild mit von links belichtetem, nach rechts gewandtem Kopf unter rötlichem turbanartigem Barett, mit wallenden Haaren und fleckiger Altershaut des Gesichtes, aufmerksam den Zuschauer anblickend, vor unbestimmtem, von links oben nach rechts unten unscharf diagonal geteiltem Hintergrund. Die teilweise durchscheinende Grundierung im Gesicht könnte darauf hinweisen, daß das Bild nicht vollendet wurde. Erstaunlich, wie unterschiedlich die Drucke dieses Gemäldes nach Licht und Farbe in Band 1 und 3 ausfallen. Über die Umstände von Rembrandts Tod ist nichts bekannt.
Anläßlich des 350. Todesjahres erschien jetzt im TASCHEN Verlag das Gesamtwerk Rembrandts in insgesamt 3 Bänden: Band 1: Sämtliche Gemälde (herausgegeben von Volker Manuth, Marieke de Winkel, Rudie van Leuwen.). Band 2: Zeichnungen und Radierungen (798 Zeichnungen und 314 Radierungen, herausgegeben von Peter Schatborn und Erik Hinterding). Band 3: Das Buch Rembrandt. Die Selbstporträts (herausgegeben von Volker Manuth und Marieke de Winkel.
Volker Manuth ist Professor der Kunstgeschichte an der Radboud Universiteit Nijmegen und ein besonderer Kenner der der Malerei des 16. Und 17. Jahrhunderts. Marieke de Winkel studierte Kunstgeschichte an der Universität von Amsterdam, hat am Rembrandt Research Projekt mitgearbeitet, interessiert sich wissenschaftlich für Kostümgeschichte und das Kostüm im Werk Rembrandts. Rudie van Leeuwen studierte Kunstgeschichte an der Radboud Universiteit und promovierte über die Geschichte des Porträts des 16. Und 17. Jahrhunderts. Umfangreiche, gut lesbare Essays über Rembrandts Werk, Leben und Zeit bieten dem interessierten Leser viel Information. Alle 330 Gemälde sind in gewohnt hervorragender Druckqualität, teilweise als Ausschnitt vergrößert, abgebildet. Sie finden sich im Katalog nach Themen und Entstehungszeit geordnet und werden nach Werkgeschichte, Titel und Hintergründen erläutert. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit Konkordanzangaben hilft wissenschaftlich Interessierten.
Volker Manuth, Marieke de Winkel, Rudie van Leeuwen - Rembrandt: Sämtliche Gemälde
XXL-Monographie mit sämtlichen 330 Gemälden Rembrandts ,
© 2019 Taschen Verlag, 743 Seiten, gebunden mit Ausklappseiten, 29 x 39,5 cm - ISBN 978-3-8365-2631-9,
150,- €
Weitere Informationen: https://www.taschen.com/pages/de/catalogue/art/all/01103/facts.rembrandt_saemtliche_gemaelde.htm
Redaktion: Frank Becker
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