Ein filmisches Meisterwerk

„Deutschstunde“ von Christian Schwochow

von Renate Wagner

Deutschstunde
(Deutschland 2019)

Regie: Christian Schwochow
Mit: Levi Eisenblätter, Tom Gronau, Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Johanna Wokalek u.a.
 
Wer 1968 noch jung war, aber alt genug für Reflexion, für den mochte der Roman „Die Deutschstunde“ von Siegfried Lenz so etwas wie ein Augenöffner gewesen sein. Deutschland war so sehr mit seinem Wirtschaftswunder und seinem Zukunftsglauben beschäftigt, daß man die Vergangenheit nur zu gerne hinter sich gelassen hatte – die penible Aufarbeitung begann erst später. Und da war nun plötzlich dieser Roman.
Dabei ging es Siegfried Lenz in seiner Geschichte nicht um die vordergründigen Greuel des Nationalsozialismus zwischen Judenverfolgung und Todeslager, sondern um eine gewissermaßen ganz alltägliche Geschichte. Und vor allem um das Bewußtsein der Menschen damals – jener, die das Regime ermöglicht hatten, und jener, die trotz ihres inneren Widerstands nichts verhindern konnten. Wie die Ideologie ganz selbstverständlich die Menschlichkeit, die Mitmenschlichkeit, die Gefühle auslöschte. Und alle ihr Handeln für richtig erachteten.
An sich wird das Buch und der Film, den Christian Schwochow (nach einem hoch intelligenten Drehbuch seiner Mutter Heide Schwochow) geradezu ingeniös inszeniert hat, von „Siggi“ erzählt – dem knapp 20jährigen Siggi Jepsen, der sich in einer Besserungsanstalt befindet und (anhand eines Aufsatzes über „Die Freuden der Pflicht“) zurückdenkt, an zehn Jahre davor. Und an seinen Vater. Und an seinen „Onkel“, den Maler, Und daran, wie die Welt damals war.
 
Dort, im sehr einsamen, sehr nördlichen Schleswig-Holstein, wo Siggis Vater Jens Jepsen, damals im Jahr 1943, Polizist im Dienst des Nationalsozialismus war. Ein sehr überzeugter. Einer, für den es Selbstverständlichkeit und Ehrensache war, „seine Pflicht zu tun“. Selbst wenn diese Pflicht bedeutete, dem eigenen Jugendfreund, dem Maler Max Nansen, ein Arbeitsverbot zu überbringen und dessen Einhaltung zu überwachen. Was Jepsen ganz ohne „laissez faire“ mit eiserner Entschlossenheit durchzieht. Wenn die NS-Behörden befinden, daß Nansens Werke „entartete Kunst“ sind, dann findet Jepsen das auch. Man stellt die Autoritäten nicht in Frage.
Und wenn der eigene älteste Sohn sich als Deserteur zuhause verstecken will, liefert er ihn den Behörden aus: die Freuden der Pflicht, für Jepsen selbstverständlich. Der auch schon auf Gattin, Tochter und den kleinen Siggi einprügelt, wenn diese sich nicht konform verhalten. Er würde nie auf die Idee kommen, daß er Unrecht tut. Er ist schließlich von seiner Pflicht überzeugt – und tut sie.
Der zehnjährige Siggi ist ein „Go between“ zwischen Vater und dem Maler, dem er herzlich zugetan ist und vice versa. Dessen Bilder ihm so nahe gehen, daß er sie versteckt, damit sie nicht abtransportiert werden. Der Widerstand des Jungen gegen den Vater wächst, aber ein Kind hat nur wenige kleine Tricks sich zu wehren (wie das verlassene jüdische Haus, das er findet und wohin er sich zurückziehen kann). Er muß zusehen, wie erst die Bilder, dann der Maler abtransportiert werden. Wie dieser zurückkommt, aber dessen Frau den Terror nicht ertragen hat und stirbt.
Und als irgendwann alles zu Ende ist und die Amerikaner den kopfschüttelnden Vater abführen – ja, da kommt dieser bald wieder. Offenbar hat er alle überzeugen können, daß er nur als kleiner Mann seine Pflicht und niemandem etwas Böses getan hat. Und er ist vollkommen unverändert, uneinsichtig derselbe, der er immer war… sicher auch eine Aussage, zumal 1968, wo all diese Menschen noch nicht wirklich alt waren.
 
Der Regisseur vermeidet jegliche Vordergründigkeit, der Nationalsozialismus springt nicht grell in die Augen, wie sollte er auch in einem kleinen Dorf im Norden. Er ist im Grunde nur in Siggis Vater da – und verbreitet stillen Terror. Christian Schwochow läßt sich für seinen Film wunderbar Zeit, fährt lange über die Landschaft, das Meer, zeigt Wind, Wellen, Kälte, Einsamkeit. Der Symbolgehalt der Landschaft ist bedeutend, die Holzschnitthaftigkeit, mit der die Menschen agieren, geht unter die Haut.
Es ist ideal, einen Mann wie jenen starren Polizisten mit einem Schauspieler wie Ulrich Noethen zu besetzen, der so gerade und korrekt wirkt und dabei so gnadenlos sein kann, ohne seine absolute Selbstverständlichkeit zu verlieren. Und auch Tobias Moretti unterspielt den Maler mit dem tragischen Schicksal, geht unemotional mit seinem Schicksal um: Es sind stille Menschen, dort im Norden. Und doch ist klar, daß sich hier eine Tragödie abspielt, die erst in den Köpfen der Menschen und dann in der blutigen Wirklichkeit ausgefochten wird.
Ganz wunderbar die beiden Siggis, Levi Eisenblätter als der zehnjährige Siggi, der gegen den väterlichen Terror immer instinktiv das Richtige tut, und Tom Gronau, der als Zwanzigjähriger nach dem Erlebten dann doch ein zutiefst verstörter junger Erwachsener geworden ist. Eine wahre Tragödie (ohne auf billige Weise „aufzudrehen“) liefert Johanna Wokalek als Nansens unerschütterlich loyale Frau.
Daß Siegfried Lenz mit Nansen damals Emil Nolde meinte, von dessen nationalsozialistischen Neigungen – obwohl er als „entartet“ verfemt wurde! – man zu dieser Zeit noch nichts wußte, spielt für den Film absolut keine Rolle. Es geht auch nicht ausschließlich um den Nationalsozialismus, sondern um das starr verbogene Bewußtsein von Menschen, die zwischen richtig und falsch nicht unterscheiden können und wollen. Die sich jeder Einsicht verweigern. Und die soll es auch heute noch geben…
 
Die mehr als zwei Stunden des Films mögen manchem lang erscheinen. Aber auch die Ruhe des Erzählens trägt zu seinem Rang als filmisches Meisterwerk bei.
 
 
Renate Wagner