Vom Unfug des Reisens

von Werner Bergengruen

Umschlagzeichnung Jacques Schedler
Vom Unfug des Reisens
 
Kant ist nie aus dem Weichbild seiner Vaterstadt hinausgekommen; gottlob hat er aus diesem Tatbestande keinen kategorischen Imperativ gemacht. Eichendorff schickt seine singenden Wanderer, rüstigen Reiter, verliebten Kutschenfahrer durch morgenfunkelnde Wälder nach Italien; er selbst gelangte nie über die Alpen. Chamisso umsegelte die Welt auf einem russischen Kriegsschiff, Byron durchfuhr das Mittelmeer, Seume spazierte von Leipzig nach Syrakus, Karl der Zwölfte ritt in vierzehn Tagen von der Türkei nach Stralsund, mein Barbier träumt seit langem von einer Motorradfahrt durch den Hunsrück, und mutige Männer ersteigen den Mount Everest.
     Kurz, es gibt keinen Kodex, keine Vorschrift. Auch die mondänen Reiseprospekte, aus denen zu erfahren ist, «wohin man jetzt geht» und welchen Reisedreß man trägt, haben keine verpflichtende Rechtskraft. Denn das Reisen ist ja eine Sache des Herzens, das Herz ist frei. Und wie das Herz unendlich ist, so ist es die Welt. Wie die Welt unendlich ist, so ist es das Reisen: diese Unendlichkeit steht jedem zu erfahren offen, und wenn er nur von Bremen nach Buxtehude reist. Ja, eine Fußwanderung von Ingolstadt nach Pappenheim kann den Kreis der Schöpfung völliger ausmessen als ein Flug rund um den meerblauen Globus. Es hat auch keine Wichtigkeit, ob das Nachtlager nun vom Hotel, von der Schutzhütte oder Schiffskajüte, vom grünen Zeltplatz, vom Schlafwagencoupé, vom Wartesaal oder vom offenen Himmel bereitgehalten wird und ob wir uns frühmorgens einem Volkswagen oder Mercedes, einem Faltboot, einem Kamelsrücken oder gar einem Rentierschlitten anvertrauen. So ist das Reisen denn nicht ein Ding des Bankguthabens oder der Stundengeschwindigkeit, sondern der ahnungsvollen Zugvogelbereitschaft unseres Herzens. Pilger und Landstreicher sind echtere Reisende als die Schrankkoffermitführer in Expreßzügen.
     Keine Reise bedarf eines Grundes oder Zweckes, fast jede eines Vorwandes: da meinen wir reisen zu sollen, um uns zu erholen, um Architekturen zu studieren, mit einem lange nicht gesehenen Menschen zusammenzutreffen, um Ski zu laufen, Aufnahmen oder Aquarellskizzen zu machen. Dies Spiel mit ernstgenommenen Vorwänden ist eine Kindlichkeit, die wir wohl durchschauen und uns selber mit lächelnder Nachsicht durchgehen lassen. Denn das wissen wir ja, daß wir in Wirklichkeit einzig und allein reisen, um einen Hunger unseres Herzens zu stillen - dieses Herzens, das sich auftun und seiner unzerstörbaren Jugend aufs neue versichert sein möchte.
     Der Jüngling des Märchens zieht aus, sein Glück zu machen. Und wir, haben wir nicht bei jeder Abreise in irgendeinem Winkelchen unseres Innern den glückseligen Torenglauben, es müßten dieses Mal spanische Schlösser und böhmische Dörfer sich uns auftun und endlich, endlich müßten wir an den Punkt gelangen, da in goldenen Schüsselchen die Füße des Regenbogens auf der Erde stehen und versunkene Schätze anzeigen?
     Und auch davon sind wir nicht frei, von dieser Urform aller menschlichen Irrtümer: «Da, wo du nicht bist, ist das Glück.» Ach, gewiß, wir durchschauen die Irrigkeit, allein wir hüten uns, diese bunte Irrigkeit aus unserem Herzen zu reißen, denn sind wir etwa dazu geschaffen worden, die herrliche wildblühende Paradoxie des Lebens in ein sauber aufgehendes Exempel umzuöden?
     Zum Reisen gehört es, daß wir nicht nur den gewohnten, sondern überhaupt den stationären Umständen des Lebens entrückt werden. Daher hüte man sich, mit dem Aufbruch nur die Formen der Einsargung zu wechseln, statt sie zu zerbrechen. Dies aber geschieht, wenn wir uns einem starren Sachverhalt inkorporieren lassen und die Selbstauslieferung an eine Organisation oder an ein rechthaberisches Ideal der Reisemondänität vollziehen. Wer so verfährt, begibt sich auf die Flucht vor sich selbst; jede Reise aber, die dem Reisenden nicht eine Rückkehr zu sich selbst ist, wird vergebens getan.
     Und was soll die bunte Prahlerei der auf den Koffer geklebten Hotelzettel? Flattern nicht tausend bunte Wimpel von deinem Herzen, so bist du umsonst gereist. Andere lassen sich an blechernen Stocknägeln genügen. Mag das sein Bewenden haben: wem die Zugspitze keine Spur ins Herz grub, der grabe sie sich mit Nägeln in seinen Stock, in Gottes Namen!
     Baedeker und alle seinesgleichen wollen Reisende führen; doch bedarf eines Reiseführers erst, wer schon zum Reisen verführt worden ist. Darum soll verführt werden, denn ich habe es mir in den Kopf gesetzt, etwas Freundliches zu tun in einer unfreundlichen Zeit. Allein bedarf es denn zu solchem Verführen einer menschlichen Bemühung? Ist die Verführung nicht allgegenwärtig, - mächtig und sanft zugleich?
     In meiner Studentenzeit hat es sich einmal ereignet, daß ich, einen Bekannten zur Bahn geleitend, im Augenblick der Abfahrt gepäcklos und nur im Besitz einer Bahnsteigkarte in den Waggon sprang; so gewaltig hatte die Verführung des abgebenden Zuges nach meinem schlechtbehüteten Herzen gegriffen. Erst nach zwei Wochen tauchte ich aus der blühenden Wirrnis dieser abenteuerlichen Reise wieder empor, und hatte Mühe, den Universitätsrichter zu beschwichtigen, denn er hatte mich inzwischen in einer belanglosen Angelegenheit «binnen drei Tagen» vorgeladen, und selbst der findigste Postbeamte war nicht in der Lage gewesen, mir diese Vorladung in meine Verschollenheit nachzuschicken. Dies soll niemandem zur Nachahmung empfohlen werden, wie sich denn meine Studentenjahre als eine Zeit williger Verführbarkeit zur Beispielsaufrichıung wenig eignen. «Gibt es aber nicht», so wirbt Jean Paul um Entschuldigung für meinesgleichen, «gibt es aber nicht ein sonnenhelles, freiflatterndes Alter, wo man alles gern sieht, was reisefertige Unruhe, Abbrechen der Zelte und Nomadenfreiheit verkündigt und wo man mit Dank in einem Reisewagen haushielte und darin schriebe und schliefe? Man gönne meinem Helden diese irrende Zeit! » Ein Quentchen solcher studentischer Verführbarkeit soll allen, denen wir Wohlwollen, von Herzen zugewünscht sein.
     O zauberische Verführung im Klange fremder Ortsnamen! Wunsiedel, Domodossola, Pöchlarn, Montabaur, Uleaborg, Velletri! Allgegenwärtig ist die Verlockung: jede Frucht, jeder Wein raunt dir betörend einen Herkunftsort zu, jeder Koffer im Schaufenster kann dein Herz klopfen machen, jeder aufblitzende Schienenstrang ist ein Teilchen des metallenen Geäders, das drei Kontinente überflicht, aus jedem Atlas, jedem Zeitungsblatt rufen hunderte von Stimmen. Jede Straße flüstert: begehe mich nur, befahre mich nur, so stehst du eines Tages vor dem Kloster Ottobeuren oder der Porta del Popolo.
     Im Russischen kennt man nicht nur den Wunsch: «Glückliche Reise! », sondern der Abreisende darf höflich und herzlich erwidern: «Glückliches Zurückbleiben!» Dies hat Sinn; denn um das Glücklichsein des Reisenden mühen sich tausend gütige Kräfte der Schöpfung; der Zurückbleibende indessen ist ungütigen Mächten ausgesetzt: den Motten, dem Rost, dem Schimmel; das heißt, dem petrifizierenden Vorgang des Haftens in der Gewohnheit und im unveränderbaren Schleichfluß der Zeit.
     Dennoch wirst du auf Reisen nicht immer glücklich sein: aus mancher Dämmerung wird die Schwermut nach dir greifen, Ermattung und Unlust werden die Reisigkeit deines Herzens bestauben, deine Freude wird vergreisen, und es werden Augenblicke sein, da du alle Bilderfülle hingeben möchtest um ein sanftes und bildloses Dunkel oder um den vertrauten Anblick des grauhaarigen warzigen Briefträgers, der dir daheim jeden Morgen mit belferndem Geklingel Zuschriften des Finanzamts, Zahlungsaufforderungen der Gasbetriebsgesellschaft, unerbetene Prospekte von Teppichhandlungen und Tulpenzwiebelfirmen ins Haus trägt. Du wirst seufzen nach der Hand, die dir Knöpfe annähte, Bleistifte spitzte und noch Verdienstlicheres mir dir vornahm. In der Unbehaustheit wirst du sein, in der Verbannung, in der Verlassenheit.
     Allein auch in diesen Augenblicken wirst du stärker dich und dein Leben empfinden, als du es je im gewohnten Daseinskreise vermochtest. Dein Herz schlage in Freude oder in Traurigkeit, immer wirst du seines Schlagens innewerden, und was willst du mehr? Du hattest gemeint, keiner Erschütterungen, keiner Berauschungen, keiner Schauer mehr fähig zu sein. Nun aber, da du ja die Stoß- und Schalldämpfer der Gewohnheit daheim zurückließest, nun gewahrst du in heißer Bestürzung, daß dein Herz immer noch jeder Anrührung offen steht, preisgegeben den Jahreszeiten, dem Hauch des Morgens und Abends, der honigfarbenen Sonne, dem blanken Mond und dem singenden Regenfall, preisgegeben wie in der Kinderzeit jeder menschlichen Begegnung. Du lebst ein exemplarisches Leben, ein Leben voll stärkerer Beglückungen, stärkerer Bedrückungen, Leben der Essenz. In vier Reisewochen lebst du ein Jahr; ein Jahr und eine Ewigkeit.
     Und um dieser Herzensöffnung willen sollen wir reisen.
Da wird die Frage des Reisezíeles, der Reisedauer und Reiseart gleichgültig. Denn wir reisen ja nicht nur an andere Orte, sondern vor allem reisen wir in andere Verfassungen der eigenen Seele.
     Und hier soll noch einmal Jean Paul das Wort gegeben sein: «Jede Reise verwandelt das Spíeßbürgerliche und Kleinstädtische in unserer Brust in etwas Weltbürgerliches und Göttlichstädtisches (Stadt Gottes).»   

 
Werner Bergengruen (aus: Badekur des Herzens)


Werner Bergengruen lebte von 1892 bis 1964. Er hinterließ ein umfangreiches Werk in Lyrik und Prosa. Mit der freundlichen Erlaubnis der Werner Bergengruen-Gesellschaft, die auch die Erben Bergengruens vertritt, dürfen wir Texte aus seinem Œuvre veröffentlichen.