Kölner Notizen

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Kölner Notizen
 
Im Jahre 2002 kamen kleine Tagebuchnotizen in Mode, die schnell und nicht immer durchdacht einen Augenblick festzuhalten versuchten. Kurze knappe Informationen machten diese Literaturgattung aus. Man nannte diese Lamentation auch „Kölner Notizen“, obwohl deren Begebenheiten nicht zwangsläufig in Köln spielen mußten. Beispieltext: „Ich habe eine Stunde Zeit totzuschlagen und beschließe, zum Merzenichbäcker zu gehen. Ich kaufe mir kurzerhand einen Kirschstreuselkuchen, weil ich in einer fremden Stadt nicht weiß, worin die Stärken des ortsansässigen Bäckers liegen. Natürlich trinke ich auch eine Tasse Kaffee und bestelle dazu eine Flasche Mineralwasser. So viel Ritual darf sein. Ich finde einen Sitzplatz, der direkt an dem Fenster ist, von dem man auf die kleine Gasse schauen kann. Schnell werde ich abgelenkt, doch nicht vom Treiben der Kölner Flaneure, sondern von einem Fernsehbildschirm, der über der Glasfront angebracht wurde. In Dauerschleife wird dort ein Film gezeigt, der mich in seinen Bann zieht. Ein Merzenichbäcker präsentiert mit einigen geschickten Handgriffen die Herstellung einer Nougatbrezel. Man sieht flinke Hände und geduldigen Teig. Schnell nimmt mich die Handlung gefangen. Wie der Bäcker den Teig knetet, füllt und schneidet, rührt mich. Wie die Brezel schließlich gerollt, geformt und auf Blechen plaziert wird, ist präzise gefilmt und höchster Augengenuß. Schon bald erkenne ich, daß der Film ohne einen einzigen Schnitt auskommt. Er erinnert in seiner Eindringlichkeit an den berühmten Kurzfilm von Claude Lelouch „C'était un rendez-vous“, Frankreich 1976, der eine rasende Fahrt durch Paris zeigt. Wie meisterlich der Spannungsbogen im Merzenichfilm gehalten wurde! Hier geht es nicht um die Herstellung einer Nougatbrezel. Hier wird der Sinn des Lebens eingefordert. Ich sehe den Kurzfilm genau 73mal und hätte ihn noch weiter betrachtet, wenn mich nicht ein wichtiger Termin gezwungen hätte, den Ort zu verlassen. Wie wenig man doch braucht, um einen guten Film zu drehen. Man muß nur was zu zeigen und zu sagen haben. Ich Nachhinein ärgere ich mich, daß ich mir keine Nougatbrezel gekauft habe. Es ist sonderbar, einen Kirschstreuselkuchen zu essen und dabei von einer Nougatbrezel zu träumen. Vielleicht liegt in dieser Erkenntnis auch die Botschaft des kleinen Nougatbrezelfilms: Verlange stets das Beste.“
 
 
© Erwin Grosche