Kippe auf Balkon

von Wendelin Haverkamp

© Jürgen Pankarz
Kippe auf Balkon
 
Woran erkennt man ein Nichtraucherzimmer im Hotel? Richtig. An den vielen Kippen, die auf dem Balkon liegen. Ausgelutscht und plattgetreten künden sie von der Sucht ihrer schnell verglühten Beziehungen - drei Minuten? vier? fünf? - Verhältnisse mit jenen Menschen, die, vermutlich aufgrund klarer Anweisung, mit dem Austritt Vorliebnahmen: „Erwin! Das ist ein Nichtraucher-Zimmer!“
     Balkontüre aufreißen und hinausstürzen, durchatmen und schnell eine Fluppe durchziehen: Julio Iglesias ohne Filter, oder Marrakesch extra light, da kommen schnell ein paar Kippen zusammen in einer Woche all inclusive. Kippe auf Balkon: Was stellt sie dar, und was will uns jener Balkon-Vertriebene an und für sich bedeuten in seinem Open-Air-Durchgangslager, von dessen Leid die Kippen künden? Zerstampft und kalt und glutentleibt steigt aus ihnen das Bild vom verloren gegangenen Menschen, vor Kälte fröstelnd, wahlweise nach Mücken schlagend: Das Bild des einsamen Rauchers Anfang des 21. Jahrhunderts.
     Aber wer nimmt ihn wahr? Wer hört ihn, wenn man ihn schon nicht sehen kann? Hört ihn, wie er heftig ausatmet, als sich hinter ihm die Balkontür schließt; hört sein kurzes, nervöses Husten durch die Fensterfront, sein Fußscharren - wohin soll er sich wenden, hier auf dem Serviertablett des Balkons?
     Hört das schnelle „Zip“, mit dem er an der Aufreißlasche die Zellophan-Ummantelung seiner Players-Packung aufreißt; hört das Erbrechen der Banderole, die er mit dem Fingernagel routiniert und sauber auftrennt, das kratzende Aufflackern des sich an der Reibfläche entflammenden Streichholzes; wie jämmerlich dagegen klingt das billige Knipsen gasgezündeter Einweg-Feuerzeuge.
     Und hört endlich den Sog des festlippig einatmenden Feuernehmens, den leisen, doch bestimmten Klang des Saugens. Wie durch ein Stück feste Watte dringt er im Gehörgang vor, eine kaum wahrnehmbare Kraft, die für Sekunden den Mahlstrom der Geräuschlawinen des Universums wie in einem galaxienhaften Feder-Plumeau aufzufangen scheint.
     Und dann: Das feste, unbeirrte Ausatmen, der Ausstoß der nun untrennbar miteinander vermählten Rauch- und Atemluftbestandteile. Frei und ungehemmt als leiser Hauch, als wolle man möglichst schnell Lunge und Bronchien freiräumen, oder angestrengt kontrolliert in spitzmündig-energetischen Stößen, in genau bemessener Zeit und Stärke, ein kräftig tosendes, zischendes Luftablassen, dem Regulieren des Luftdrucks in Autoreifen nicht unähnlich, als ob ein Pfeifton auf sein Ableben aufmerksam machen wollte.
     Kippe auf Balkon! Munch hätte das malen müssen, keiner konnte so stumm rumschrefn, aber der ist ja auch schon tøt: „Kippe auf Balkøn“, Trørød 1899, sowohl ex- wie auch impressionistisch stark beeindruckend.
     Moment! Werden Sie sagen: Kippe auf Balkon, gut und schön, aber wie steht es mit „Balkon auf Kippe“? Das ist doch ein Thema, was uns heute mehr angeht, und da könnten Sie recht haben. Balkon auf Kippe, wer hat es sich nicht schon vorgestellt, auf dem eigenen wie zu Besuch auf dem von Freunden oder in Hotels und Gaststätten und vor allem: Wie mag sich das anhören? Im Grunde kann man sagen: Ein Balkon ist Vertrauenssache, genau wie die Wahl des richtigen Partners oder des maßgeschneiderten Rentenfonds, wenn nicht noch mehr, weil: Ein Balkon auf Kippe, das ist ja, wenn man ihn von unten sieht. Von oben erscheinen die meisten Balkone der Welt wie die Fortsetzung eines Zimmers mit unerlaubten Mitteln, sprich als Schritt über den eigentlich vom Schöpfer klar vorgegebenen Rahmen eines Zimmers hinaus.
     Ob er stabil ist oder nicht, amtliche Angaben, wieviel Kilo er verträgt, wie beim Aufzug: Kurzer Blick, Addieren der anwesenden Personen, all das gibt es beim Balkon nicht. Schon der Bodenbelag verdeckt oft nur mühsam, was sich unter ihm verbirgt. Also betritt man ihn nichtsahnend und fröhlich, während drinnen das Fest der Nichtraucher weitergeht. Mindestens 12 Raucher folgen ermutigt.
     Balkon auf Kippe: Von unten hat der Balkon ein anderes Gesicht. Von unten wird die Dünne seines Bodens offensichtlich, hat sich die Feuchtigkeit durch den Putz gedrückt. Risse im Zement, Bauschäden aller Art, ein Rätsel, warum er nicht augenblicklich seiner Pfiicht nachkommt und abbricht.
     Und wenn wir ihn uns vorstellen, den von 13 Rauchern zugleich betretenen Balkon auf Kippe, hören wir auch ein leises Knirschen, trotz der geselligen Musik, die rhythmisch-pulsierend aus dem Nichtraucher-Innenraum quillt: PHomm-PHomm-PHomm. Die Fläche des Balkons zittert und wippt im Takt der Raucherbeine, die sich fest mit den verbliebenen Füßen ins Geländer gestemmt haben.
     Es wird gerne als Erfahrungstatsache ausgegeben, daß die Stimmung bei Gesellschaften in der Küche am besten sei, weil dort der Kühlschrank und so weiter; dies gilt nur für Wohnungen ohne Balkon. Die Wahrheit ist, daß ein Fest nirgendwo so lebendig ist wie auf dem Balkon; auch der erste Weltkrieg soll hier seinen Anfang genommen haben.
     Hier ist der periphäre Ort, von dem aus man ins Innere der Menschheit blicken kann. Wie auf einem Satelliten die Erde umkreisend und ihren Lärm von Ferne belauschend; auf leicht knackendem Untergrund das Geräusch von Einbahn- und Milchstraßen im Ohr und jederzeit bereit, im Absturz den Preis für höhere Einsichten gerne zu bezahlen. Und davon mal ab: Meistens steht der Löwenanteil der Getränke sowieso auf dem Balkon und macht sich schwer.
     Balkon auf Kippe. Das Ploppen der entkorkten Flaschen geht vom Balkon aus um die Welt, und von Zeit zu Zeit gesellt sich der Papst dazu und winkt - urbi et orbi. Wie bitte? Ob der Papst raucht? Egal. Er ist einer von uns.
 
 
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003
Die Illustration stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.