Informativ und anregend

Günter Müchler – „Napoleon - Revolutionär auf dem Kaiserthron“

von Johannes Vesper

Informativ und anregend

Napoleon: Revolutionär auf dem Kaiserthron
 
Von Johannes Vesper
 
Als Kind war er eigensinnig und so jähzornig, daß sich seine Mutter nur mit Ohrfeigen und gelegentlicher Peitsche zu helfen wußte. Napoleon kam mit neun Jahren 1779 auf eine der zwölf königlichen Militärschulen Frankreichs. Zum Erhalt des Stipendiums hatte sein Vater den Offenbarungseid leisten müssen. Auf der Schule von Brienne le Chateau (Champagne) lernte er erst mal Französisch, war unter den jungen französischen adeligen Mitschülern nicht beliebt, wurde von ihnen als „Nasenpopler“ gemobbt, erhielt aber bei einer Schneeballschlacht als Kommandant seiner Truppe schon Sonderapplaus. Der Einzelgänger mit seinem brillanten Gedächtnis interessierte sich vor allem für Geschichte und Mathematik. 1784 bekam er die Zulassung zur berühmten École Royale Militaire in Paris, wo er, der Aufsteiger aus dem fernen Korsika, im Umgang mit seinen illustren Mitschülern aus den vornehmsten Familien Frankreichs die ungezwungene Selbstsicherheit erlangte, die ihm als Feldherr und Kaiser später zupaß kommen sollte. Napoleon las leidenschaftlich, exzerpierte alles und begann wie „ein Rasender“ zu schreiben. Mit 16 Jahren wurde er zum Unterleutnant ernannt. Mit 18 Jahren besucht er zum ersten Mal eine Prostituierte, schrieb Fabeln, Novellen und hätte vermutlich als vielschreibender Schriftsteller auch Erfolg gehabt, wenn ihn das Militär nicht so fasziniert hätte. Im Anschluß an die Grundausbildung interessierte er sich an seinem Standort Auxonne vor allem für die Artillerie. Dort lebte Napoleon zusammen mit seinem kleinen Bruder, um den er sich nach dem Tod des Vaters 1785 kümmern mußte, in zwei kargen Zimmern eines Gartenhauses.
 
     Als 1789 die französische Revolution ausbrach, schrieb er an seiner Geschichte Korsikas, pendelte zwischen Frankreich und Korsika mehrfach hin und her und erfaßte und erlebte erst 1792 in Paris die volle Bedeutung und Grausamkeit der Revolution, war entsetzt über die Brutalität auch der Frauen, die „sich zu unaussprechlichen Unanständigkeiten gegenüber Leichen, Torsen und abgeschlagenen Köpfen hergegeben haben“. Bei den Septembermorden vom 2.-4.9 1792 gab es 1.200 Tote, darunter Strafgefangene, Prostituierte, auch Kinder und 115 Priester. Solche Kunde strahlte auch aus nach Korsika, wo Napoleon bei Auseinandersetzungen zwischen korsischen Separatisten und Frankreich festgenommen wurde. Die Familie Bonaparte konnte aber am 11.07.1993 nach Toulon fliehen und Napoleon wurde endlich Franzose. Frankreich mußte sich inzwischen gegen eine Koalition von Österreich, Preußen, England, den Niederlanden, Piemont und Spanien verteidigen. Das nicht-revolutionäre Europa wollte der Revolution nicht im eigenen Land begegnen und glaubte, den Tod Louis XVI. rächen zu müssen. Darüber hinaus herrschte Bürgerkrieg in ganz Frankreich vor allem in der Vendée. Diejenigen, die den Eid auf die revolutionäre Verfassung verweigerten, also vor allem konservative Katholiken, wurden verjagt, umgebracht und gefangen genommen. Kirchen wurden zerstört, Heiligenfiguren die Köpfe abgeschlagen. In Südfrankreich lehnten sich außerdem die fédéres gegen das übermächtige revolutionäre Paris auf, welches sich repressiver und unerträgliche als die absolutistischen Könige vorher gebärdete. In Toulon unterstützten auf Einladung dieser fédéres 15.000 Engländer und Spanier den Kampf gegen den revolutionären Zentralstaat. Jetzt kam Napoleons erste große Stunde, der damals „zwar 24 Stunden ohne Essen auskommen konnte, aber nicht drei Minuten ohne Schießpulver“. Dank seiner Energie, seines Organisationstalents, seiner Taktik wurden die fremden Truppen aus dem Hafen von Toulon vertrieben (Dez. 1793) und nach dem Einmarsch in die Stadt 700 Aufständische umgebracht, woran Napoleon nicht beteiligt gewesen sein soll. Daraufhin vertraute man dem 24jährigen als Brigadegeneral die gesamte Artillerie der Italienarmee an, die gegen die in Italien stehenden Österreicher aufgestellt worden war. Napoleon verliebt sich nur ein bißchen in Desiree, die Tochter eines Großkaufmanns aus Marseille, die aber bald gegen die ältere, erfahrene, schöne, Pariserin mit schlechten Zähnen Josephine Beauharnais keine Chance hatte.
 
     Die französischen Revolutionäre trugen ihren Kampf gegen Tyrannei und Reaktion nicht nur im eigenen Land, sondern auch in den benachbarten Staaten aus. Auf dieser nationalen und revolutionären Freiheits- und Expansionwelle Frankreichs schwamm Napoleon als begabter und charismatischer Heerführer in den ersten Koalitionskriegen von Erfolg zu Erfolg bis zur finalen Schlacht von Marengo am 14. 06.1800 und dem Frieden von Luneville 1801. Die französische cisalpinische Republik Oberitaliens wurde von Österreich anerkannt und die Rheingrenze von Basel bis Koblenz zugestanden, außerdem Belgien an Frankreich abgetreten.
     Als nächstes Ziel tauchte England auf der französischen Agenda auf. Napoleon stellte schnell fest, daß für eine Invasion Englands wirklich alle Voraussetzungen fehlten und schlug stattdessen eine Expedition in den Nahen Osten vor, um Englands Indienhandel zu bedrohen.  Am 19.05.1798 ging es los mit 50.000 Mann, darunter 21 Mathematiker, 3 Astronomen, 13 Naturwissenschaftler, 13 Geografen, 10 Schriftsteller, 1 Bildhauer, 23 Drucker, Dolmetscher, 4.800 Flaschen Rotwein usw. usw. Für Napoleon unabdingbar war eine gewaltige Reisebibliothek, in der die Bibel und der Koran nicht fehlten. Die französische Armada (50 Kriegsschiffe, 300 Transportschiffe) wurde von einer englischen Flotte unter Admiral Nelson unbemerkt verfolgt und überholt. Im Juli 1798 schlug das französische Heer in der „Schlacht unter den Pyramiden“ unbehelligt von den Engländern die Mamelukken unter Murad Bey und besetzte Kairo. Sieger und die Kairoer Bevölkerung „fleddern die Toten, fischen ihre Leichen aus dem Nil, entkleiden sie, raffen Geld, Teppiche und Silber und Porzellan, so viel man tragen kann“, hieß es, und erschlugen den Anhang des osmanischen Militärs. Kurz später wurde Napoleons Flotte bei Aboukir von Nelsons Flotte entdeckt und sogleich versenkt. Napoleon war in Ägypten abgeschnitten und zog mit der armée orientale Richtung Palästina. Dieser Ausflug endete zunächst vor Jaffa, wo er nach mühsamer Belagerung 2.600 Gefangene am Strand erschießen ließ. Anschließend brach die Pest dort aus. Die Eroberung von Akko, der ehemaligen Hauptstadt des Königreichs Jerusalem, mißlang gründlich. Napoleon brach das Abenteuer ab und – inzwischen zurück in Kairo - entkam mit Hilfe englischer (!) Schiffe. Militärisch und vom Image her also ein Fiasko, bleibt die napoleonische Besetzung Ägyptens kulturell und wissenschaftlich ein bedeutendes Unternehmen. An der Fassade des Palais Beauharnais (Deutsche Botschaft in Paris) sind die ägyptischen Einflüsse der Exkursion noch heute ablesbar.
 
     Nachdem er 1804 zum Kaiser gekrönt worden war, galt Napoleons Interesse ganz Europa. Er überzog den Erdteil mit Schlachten und Eroberungszügen, da die Invasion des Erbfeindes Englands nach der Niederlage 1805 und Zerstörung der französischen Flotte am 21.10.1805 bei Trafalgar wieder nicht mehr in Frage kam. Also wandte er sich dem Festland zu und zog über Ulm und Austerlitz (1805) bis nach Ostpreußen, wo nach dem „Massaker ohne Ergebnis“ bei Preußisch-Eylau (schätzungsweise 30.000 Tote!) und der erfolgreicheren Schlacht bei Friedland südlich von Königsberg am 14.06.1807 der Frieden von Tilsit geschlossen wurde. Damit schied Preußen als bis dahin russischer Verbündeter erst mal aus der europäischen Großmacht-Politik aus. Es existierte ja nach der Niederlage von Jena und Auerstedt (Okt. 1806) sowieso nur noch als Rumpfstaat. Napoleon hatte aus dem besetzten Berlin heraus die Kontinentalsperre (21.11.1806), die Wirtschaftsblockade gegen England verordnet. Sein europäischer Eroberungszug schwemmte nach sachkundiger Sichtung durch D.V. Denon, ungeheure Kunstschätze aus ganz Europa nach Frankreich. Der Louvre als größtes Museum (die ehemals königliche Kunstsammlung wurde am 10.08.1793 im Zuge der Revolution für die Öffentlichkeit geöffnet) konnte nicht alle aufnehmen, so überließ Napoleon Provinzmuseen einen Teil dieser Reichtümer. Das Landesmuseum Museum in Mainz z.B. erhielt 1803 36 Gemälde aus diesem europäischen Kunstraub.
     Die Ausweitung der Kontinentalsperre gegen England führte zur Besetzung Spaniens ab 1807 und 1812 schließlich zum desaströsen Rußlandfeldzug, womit das napoleonische Machtgefüge überdehnt und zerstört wurde. Damit war nach den Schlachten von Leipzig und Waterloo die Teilung Europas in russisches und französisches Einflußgebiet, wie sie von Napoleon auf dem Fürstentag in Erfurt 1808 konzipiert worden war, hinfällig, und es kam 1815 auf dem Wiener Kongreß zu einer anderen Neuordnung Europas.
 
     Das Phänomen „Napoleon“ bleibt bis heute jenseits von komplexer Historie interessant und faszinierend. Seine Politik „Frankreich zuerst“ und Neigung zum Plebiszit z.B. sind hoch aktuell. Er glaubte mit Plebisziten seine Legitimität sichern zu können und brauchte eine Verfassung, die „kurz und schwer auslegbar“ war. „Das Vertrauen kommt von unten, die Autorität von oben“. Mit dem Staatsstreich am 18. Brumaire des Französischen Revolutionskalenders (9. Nov. 1799) setzte Napoleon das Direktorium ab, katapultierte sich als Alleinherrscher an die Spitze des Staates und kündigte die neue Verfassung an mit den Worten: „Bürger, die Revolution ist zu Ende“, große Worte für den Dreißigjährigen, der gerade mit Mühe der militärischen Katastrophe in Ägypten entkommen war. Skrupellosigkeit gehörte zu seinem Erfolgsrezept. Den 32jährigen Herzog von Enghien, der, als Emigrant von England bezahlt, das Regime „Napoleon“ beseitigen wollte, wurde völkerrechtswidrig aus Ettenheim (Baden) verschleppt und nach Verhör durch eine Militärkommission im Schloßgraben von Vincennes auf Befehl Napoleons sogleich erschossen. Diese Affäre schadete Napoleons Image in Europa erheblich. Der russische Zar sprach gar von „einem Nest von Briganten“ um Napoleon. Für die Ausweitung der Errungenschaften der französischen Revolution in Europa nahm Napoleon ca. vier  Millionen Kriegsopfer billigend in Kauf.
     Er zog aber sein Selbstbewußtsein weniger aus den 40 gewonnenen Schlachten, sondern vor allem auch aus seinen innenpolitischen Errungenschaften, von denen die wichtigsten, der Code civile, der ab 1806 Code Napoleon genannt wird, das Handelsgesetzbuch und das Strafgesetzbuch, lange ihre Bedeutung behielten. Besonders interessierten ihn die Schwachen der Gesellschaft: Kinder, Minderjährige und Arme, Geschiedene. Er besuchte inkognito z.B. die Elendsviertels Kölns, denen er spontan 12.000 Francs zur Linderung der größten Not gespendet hat. Für eine Gleichstellung der Frauen war es noch zu früh. Aber Gleichheit vor dem Gesetz, die standesamtliche Eheschließung, das Recht auf Scheidung waren Errungenschaften dieses Gesetzwerkes. Napoleon förderte auch andere innenpolitisch wichtige Projekte: Straßenbau, Brückenbau, Kanalbau. Medizinisch wurde unter seiner Ägide die Societé maternelle gegründet, die arme Frauen im Wochenbett unterstützt. Er förderte das Impfen, baute Krankenhäuser auf und aus, schuf ein neues Schulsystem, gründete Universitäten und 32 Akademien auch in Mainz, Münster und Bremen in der Zeit als sie napoleonisch- französisch besetzt waren.
 
     Mit Charme, „lebhaften und forschenden Augen“ bezwang Napoleon seine Umgebung. Dabei vermied er Peinlichkeiten, Taktlosigkeiten und Entgleisungen durchaus nicht, wobei die Frauen ihn wohl trotzdem mochten, er sie auch, jedenfalls die deutschen. Nach der Hochzeitsnacht mit der 18jährigen Marie Louise empfahl er einem Vertrauten: „Heiraten sie eine Deutsche. Sie sind die besten Frauen der Welt! Süß gut, naiv und frisch wie Rosen“. Napoleon kam mit sechs Stunden Schlaf aus und arbeitete regelmäßig 16-18 Stunden pro Tag. Sein Wappentier war die Biene! Er putzte sich regelmäßig die Zähne, badete täglich und nahm seine heißgeliebte Badewanne auf jeden Feldzug mit. Französische Eßkultur war dem Korsen fremd. Er aß mit ungeheurer Geschwindigkeit, der die Gäste oft nicht folgen konnten, sie sich also nach zu kurzer Mahlzeit wieder hungrig vom Tisch erhoben.
     Die informative und anregende Biografie Günter Müchlers (geb. 1946) ist trotz der komplexen historischen Zusammenhänge leicht und unterhaltsam zu lesen, auch im Hinblick auf aktuelle politische Verhältnisse. Der Autor arbeitete nach dem Studium der Geschichts- und Politikwissenschaft bei verschiedenen Zeitungen, später beim Rundfunk. Dies ist sein viertes Buch zur Geschichte Napoleons. Umfangreiche Anmerkungen, ein großes Literaturverzeichnis und Personenregister ermöglichen dem Interessierten tiefere Beschäftigung mit Napoleon und seiner Zeit. Zeittafel und Sachregister fehlen. Damit würde die Orientierung im Werk leichter.
 
Günter Müchler – „Napoleon - Revolutionär auf dem Kaiserthron“
© 2019 WBG Theiss, 622 Seiten, 2 politische Karten Europas von 1789 und 1812, etliche Abbildungen (Schwarz-Weiß), ISBN 978-3-8062-3927-1,
24,- € (19,20 € für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft)
Weitere Informationen: www.wbg-wissenverbindet.de