Momentaufnahmen mit Ewigkeitswert

Otto Jägersberg – „ Liebe auf den ersten Blick“

von Frank Becker

Momentaufnahmen mit Ewigkeitswert
 
237 weitere Köstlichkeiten
 
Guten Tag.
Genau.
 
Zweimal bereits hat Otto Jägersberg für seine kurze Prosa, seine literarischen Momentaufnahmen in den vergangenen Jahren unsere Auszeichnung, den Musenkuß bekommen. Das war 2015 für „Keine zehn Pferde“ und 2016 für „Die Frau des Croupiers“. Heute stellen wir Otto Jägersberg einen dritten Pokal aufs Bücherbord, denn mit „Liebe auf den ersten Blick“ erfüllt er abermals jeglichen literarischen Wunsch. Beim Fußball heißt das, glaube ich, Triple oder Hattrick.

Bis dato habe ich in den bisherigen Bänden summa sumarum 199 Anlässe zum Vergnügen bejubeln dürfen, heute verneige ich mich vor Jägersberg und 237 weiteren Köstlichkeiten aus seiner Schriftsteller-Werkstatt. Er ist ein Phänomen, seine kurzen Prosa-Texte einer ums andere Offenbarungen. Miniaturen aus dem und über das Leben sind es, von der Form her flüchtige Tagebucheintragungen, jedoch von solcher Substanz, daß eine jede eine Perle ist. Momentaufnahmen mit Ewigkeitswert.
Wir lesen mit Otto Jägersberg in seinen alten rororo-Bändchen oder Simenon, beobachten Mauersegler und Reiher, flanieren durch Baden-Baden, verweilen in einem Ulmer Biergarten unter schattenspendender Kastanie, gehen ins Kino oder auf den Gemüsemarkt. Und immer wieder Wunderbares über Literatur.
 
Natürlich schreibt Jägersberg, er hat viel gesehen und erlebt, ist 77, über sich – und doch schreibt er über Sie und mich, läßt Situationen aufblitzen, weckt Erinnerungen, zeigt die Gemeinsamkeit des Lebens, das wir, die wir ihn lesen, mit ihm haben. Mit unerreichter Treffsicherheit geschieht das. Sie können das Buch selbstverständlich akademisch bei 1 beginnen:
„Liebe hat was Unanständiges, es geht den Beteiligten auf Teufel komm raus ums Umschlingen und Schleimen. Wir halten es mit der Verführung. Dabei werden Anstand und Sitte gewahrt, Umgangsformen spielen eine Rolle, Höflichkeit, Sauberkeit, Disziplin werden nicht verachtet, sogar Talente können zum Einsatz kommen“ und sich dann bis 237 durchschmökern: : „Das Seelenleben war gut aufgehoben in den Märchen, der Bibel, dem Koran, dem Buch vom Es und in der Literatur, vom Don Qujote bis zu Leopold Bloom. Warum dann Psychoanalyse? Die Psychoanalyse war doch nur eine spezielle Interpretation von Literatur, auf den Menschen übertragen. Wenn die Psychoanalyse selbst Literatur wurde, ging's ja, wenn sie sich der Verwissenschaftlichung seelischer Zustände widmete, wurd's dubios.“
 
Aber Sie können auch lustvoll an jedweder Stelle in das Buch hineinstechen. Egal wo Sie es aufschlagen, eine Landschaft, ein Bild wartet darauf, genau jetzt gelesen zu werden. Und wenn Sie das an nämlicher Stelle wieder tun, ist es, als habe sich der Text ein ganz klein wenig verändert.
 
Ein Kind lag auf der Straße und blies Sand vom Bürgersteig.
Ich mußte über es steigen, es rührte sich nicht.
 
Otto Jägersberg sagt die Dinge wie sie sind, ob er einen Wein, einen Menschen, einen Film oder einen Augenblick beschreibt. Er hilft beim Erinnern, Reflektieren, Realisieren. Wie oben bereits angedeutet: Wir zeichnen „Liebe auf den ersten Blick“ mit unserem Prädikat, dem Musenkuß aus.
 
„Auf dem Friedhof gilt meine Aufmerksamkeit bei den Steinen nicht mehr den Namen und Sprüchen, das Sterbejahr interessiert mich. Aha, jünger als ich, und schon tot. Habe ich was falsch gemacht, oder meinte es jemand gut mit mir.“
 
Otto Jägersberg – „ Liebe auf den ersten Blick“
© 2019 Diogenes Verlag AG,  274 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag  -  ISBN: 9783257070736
24,- €
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch