„Davon glaube ich kein Wort!“

Max Delbrück in der Anekdote (5)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Davon glaube ich kein Wort!“
 
Max Delbrück in der Anekdote (5)

 Von Ernst Peter Fischer

Der gute Mensch von Kopenhagen
 
Als der frisch promovierte Max Delbrück Anfang der 1930er Jahre bei Pauli an der Universität in Zürich eintraf, und theoretisch-physikalisch zu arbeiten, versuchten zwei Personen miteinander auszukommen, die beide ihren Dickkopf hatten. Delbrück war kurz vorher bei seiner Doktorprüfung in Göttingen durchgefallen, und zwar deshalb, weil er jede Frage des Prüfers mit „Ich weiß nicht“ beantwortet hatte. Es ging um Themen der klassischen Physik und Delbrück meinte, deren Zeit sei vorbei. Er bereitete sich deshalb gar nicht erst vor und wußte so weder zu sagen, wie man hohe Temperaturen bestimmt noch wie man die Stärke von Magnetfeldern mißt. Zwar konnte diese Peinlichkeit in einer Wiederholung der Prüfung ausgebügelt werden, aber die Augen, die dafür zugedrückt werden mußten, hielt Pauli weit offen. Er hatte zwar Verständnis für solche trivialen Schwächen, reagierte aber unwirsch, als er merkte, daß Delbrück mit seinen damaligen theoretischen Bemühungen nur langsam vorankam und sich in all seine Berechnungen immer wieder Fehler einschlichen. Das ging Delbrück selbst auf die Nerven und ans Gemüt, und allmählich breitete sich in Paulis Gast die Erleuchtung aus, dieser theoretisch weit fortgeschrittenen Wissenschaft nicht gewachsen zu sein. Als Folge wechselte Delbrück nach Kopenhagen, wo der große Niels Bohr das freundliche Gegenstück zu Paulis Unerbittlichkeit darstellte und in seinem Kopenhagener Institut einen Umgangston voller Humor und Verständnis eingeführt hatte, was ausführlich in meiner Biographie „Niels Bohr – Physiker und Philosoph des Atomzeitalters“ nachzulesen ist, in dem einige der folgenden Geschichte ebenfalls zu finden sind. 
 
       Bohr hatte Physiker aus vielen europäischen Ländern in die dänische Hauptstadt geladen und gelockt, und einer von ihnen war der Russe George Gamow, der ein Meister des Schabernacks war und Bohr gerne begleitete, wenn der große Meister der Atomphysik abends ins Kino ging. Bohr liebte die Wildwestfilme amerikanischer Produktion, und Gamow hat erzählt, wie Bohr sich Gedanken zu den Inszenierungen und Geschichten aus Hollywood gemacht hat:
       „Ich glaube ja gerne“, sagte Bohr nach dem Besuch des Kinos, „daß sich ein Mädchen allein auf eine schwierige Wanderung durch die Rocky Mountains begibt. Ich kapiere auch, daß sie auf den engen Pfaden dabei ins Stolpern gerät, auf dem dazugehörigen Hang abrutscht und sich gerade noch an dem letzten Kiefernast festhalten kann, und so verhindert, daß sie in die Tiefe eines Canyons abstürzt und ihr Leben verliert. Ich akzeptiere zudem, daß ein hübscher Cowboy genau in dem Moment fröhlich pfeifend und frisch gekämmt denselben Weg wie das Mädchen entlang kommt, sofort ihre Notlage erkennt und zielgenau sein Lasso wirft, das zum Glück die richtige Länge hat und von dem unglücklichen Mädchen ergriffen wird. Ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, daß ihre Kraft ausreicht, um sich freischwebend daran festzuhalten und in die rettende Höhe ziehen zu lassen. Was mir nur extrem unwahrscheinlich erscheint, ist die Tatsache, daß zur selben Zeit, in der dies alles passiert, sich zusätzlich ein Kamerateam am Ort des Geschehens eingefunden hat, das die ganze Aufregung auch noch auf Film festhält.“
       Bohr machte sich im Anschluß an die Kinobesuche zusätzlich Gedanken über die Frage, wie es kommt, daß in den Wildwestfilmen zwar stets der Bösewicht zuerst zur Waffe greift, daß es aber trotzdem zuletzt dem Guten gelingt, als Sieger aus dem Wettkampf hervorzugehen. Solch ein permanentes Happy End könne Hollywood doch nur bringen, wenn es wenigstens halbwegs überzeugend wirkt. Bohrs Erklärung basierte auf der Beobachtung, daß viele Abläufe in der Natur deshalb so gut gelingen, weil die beteiligten Organismen nicht über ihr Tun nachdenken und sie einfach so – instinktiv und intuitiv – beherrschen, und zwar fehlerfrei. Dies trifft auch für den Filmhelden zu, der automatisch seinen Colt zieht, wenn der Bösewicht zur Waffe greift, der zuvor ja über den passenden Zeitpunkt nachdenken mußte und daher im Moment der Entscheidung langsamer agiert.
       Übrigens – eine ähnliche Einschätzung findet sich bekanntlich in der Schrift „Über das Marionettentheater“, die aus dem frühen 19. Jahrhundert und von Heinrich von Kleist stammt. Darin geht es unter anderem um einen Fechtmeister, der sich über die für ihn erstaunliche Fähigkeit eines Bären wundert, alle Stöße zu parieren – es scheint ihm, „als ob er meine Seele … lesen könnte.“
       Um Bohrs Theorie des instinktiven Wahrnehmens von Absichten auszuprobieren, kaufte Gamow zwei Paar von Spielzeugpistolen, die sich die Kontrahenten – Gamow und Bohr – umbanden und die sie beide tatsächlich auch im Seminar trugen. Der Russe übernahm die Rolle des Ganoven, der – wie sich herausstellte – tatsächlich keine Chance gegen den Helden Bohr hatte, selbst wenn dabei gerade heftig über schwierigste Physik argumentiert wurde und die Umlagerungen von Atomkernen zur Debatte stand.
       Noch etwas zu Gamow, der später mit einem amerikanischen Physiker und Kosmologen namens Ralph Alpher eine Arbeit über die Entstehung der ersten Elementarteilchen und Wasserstoffatome in einem Weltall geschrieben hat, das sich nach einem heißen Urknall abkühlt. Als die beiden ihr Manuskript zur Veröffentlichung einreichten, kam Gamow auf die Idee, den völlig unbeteiligten Physiker Hans Bethe zu bitten, seinen Namen mit als Autor aufführen zu dürfen. Es wäre doch zu schön, meinte der Russe mit Humor, wenn man eine Arbeit von Alpher, Bethe und Gamow hätte, da die Reihenfolge dieser Namen den Anfangsbuchstaben des griechischen Alphabets entsprächen – Alpha, Beta, Gamma. Bethe schmunzelte und stimmte zu, ohne ein Wort in dem Text gelesen zu haben, über den sein Name zusammen mit denen der beiden anderen jetzt zu lesen stand.
 
 
© Ernst Peter Fischer
Aus: „Davon glaube ich kein Wort!“
Anekdoten und Geschichten aus der Welt der Wissenschaft
 Redaktion: Frank Becker