Endzeiten

Hartmut Lange – „Der Lichthof“

von Frank Becker

Endzeiten
 
Zuverlässig versorgt Hartmut Lange, der am 31. März seinen 83. Geburtstag feiert, seine Leserschaft mit kleiner Prosa, fesselnden  Erzählungen, Novellen, Alltagsgeschichten, die bei mitunter scheinbarer Oberflächlichkeit doch in Seelentiefe gehen. Ein neues schmales Bändchen von gerade einmal 95 Seiten hat der Zürcher Diogenes Verlag soeben vorgelegt. Vier kleine Novellen sind darin und als Besonderheit „In eigener Sache“, ein Stück bedeutender Lebenserinnerung des Schriftstellers.
 
Es sind Endzeiten, von denen Hartmut Lange hier erzählt: Das lakonische Ende einer Liebe, eines doch so schön gewesenen gemeinsamen Lebens in der Titelgeschichte Der Lichthof, das Ende einer Karriere, zugleich des Lebens des Protagonisten in Der Weg zum Meer, das Ende einer Beziehung mit einem Seitenhieb gegen Künstliche Intelligenz in Der Navigator und ein zwar nicht zu revidierendes, lange vergangenes, aber doch als Basis für Neues taugendes Ende einer gescheiterten Beziehung in Ronnefelder. Dieser vierte, kleinste der Texte hat die Wucht einer Schicksalssinfonie und ist mein Favorit des erzählerischen Bereichs des Buches.
 
Der autobiographische Text, der zu Ende des kleinen Bandes auf 22 Seiten das letzte Weihnachtsfest mit seinem Vater 1944 in Naßwerder im Wartheland (heute Ostrowite/Polen) erzählt und einen aufs Wichtigste komprimierten Abriß der Jahre bis 1960 transportiert, erschüttert. Das Schreckliche, das der Siebenjährige auf der Flucht vor der Roten Armee Richtung Westen erlebte, die Liquidation des Vaters durch russische Soldaten, die fürchterliche Angst der Mutter, deren mit brutaler Gewalt gegen ihre Kinder verbundener psychischer Zusammenbruch schließlich, der unaufgeklärte Mord am sieben Jahre älteren Bruder und die Versöhnung mit der Mutter vor ihrem frühen Tod sind bewegend.
Hartmut Lange nennt das seltene Vermögen sein eigen, mit knappen, wohlgesetzten Worten komplexe Geschehnisse seelisch begreifbar zu vermitteln und den Leser tief zu berühren.
Eine Empfehlung der Musenblätter
 
Hartmut Lange – „Der Lichthof“
Novellen
© 2020 Diogenes Verlag, 95 Seiten, Ganzleinen, Schutzumschlag – ISBN: 9783257070958
22,- €
Weitere Informationen: www.diogenes.ch
Hartmut Lange wurde 1937 als Sohn eines Metzgers und einer Verkäuferin in Spandau bei Berlin geboren. Seine Familie wurde 1939 nach Polen umgesiedelt; 1946 kehrte er mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Berlin zurück. Lange studierte 1957–1959 Dramaturgie an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. 1960 schrieb er sein erstes Theaterstück Senftenberger Erzählungen. 1961–1964 war er Dramaturg am Deutschen Theater in Ost-Berlin. 1965 verließ Hartmut Lange die DDR über Jugoslawien.
Lange schreibt Dramen, Essays und Prosa, arbeitete an verschiedenen, meist Berliner Theatern als Regisseur. 1982 erschien Die Selbstverbrennung, 1983 das Tagebuch eines Melancholikers (Deutsche Empfindungen). Lange schreibt seither vornehmlich Erzählungen und Novellen.