Buchstabe und Zahl in der Bibel

Eine philologische Textbetrachtung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Buchstabe und Zahl in der Bibel
 
Eine philologische Textbetrachtung
 
Von Heinz Rölleke
  
Zahlen in den Schriften des Alten und des Neuen Testaments haben die Bibelleser und -deuter seit je interessiert. Dabei ging man das Thema mit verschiedenen Erkenntnisinteressen an. Sieht man von den zahllosen rein spekulativen Deutungen ab, so dominieren die Fragen nach der in Ziffern verborgenen Symbolik. Zum Beispiel wird die etwa sechzig Mal in der Bibel begegnende Zahl 40 als Symbol der Erwartung interpretiert, die Zahl 3 als Hinweis auf den göttlichen, die Zahl 4 auf den irdischen Bereich verstanden.
In dieser Hinsicht sind die Deutungsvarianten natürlich fast grenzenlos.
 
Anders steht es um die genaue Nachrechenbarkeit biblischer Zahlenkonstellationen, die nach Meinung der Interpreten einerseits für die Inspiration der biblischen Schriften durch Gott spricht (Gott hat alles nach Maß und Zahl geschaffen, und die biblischen Zahlen können weder willkürlich noch  gar fehlerhaft sein: „Wande numerus niht entriuget“, sagte das Mittelalter), andererseits garantiert die nachprüfbare Übereinstimmung von Buchstabe und Zahl die unverfälschte Genauigkeit der Textüberlieferung.
 
Man setzte die 22 Buchstaben der in hebräischer Sprache und die 24 Buchstaben der in griechischer Sprache verfaßten Texte mit Zahlenwerten gleich, was dann später auch für die Übersetzungen ins Lateinische galt.
 
Die jüdische Mystik befaßt sich nunmehr seit mehr als 3000 Jahren mit dem Problem. Vor allem die chassidistische Richtung ist bei ihren Studien zu so bemerkenswerten, kaum bestreitbaren Ergebnisssen gekommen. So hat man errechnet, daß die Zahlenwerte für die Worte „Nebel, Geist“, hebräisch EḌ, für das Wort „Blut“, hebräisch  ḌAṂ  5 bzw. 44 sind; fügt man die Worte zusammen, ergibt sich der Name AḐAṂ (Mensch), dessen in Zahlen umgesetzte Buchstaben als Summe 49 ergeben.
 
In der Genesis (1. Mose 16.1-15) heißt es, daß dem bis dato mit seiner Ehefrau Sara kinderlosen Abraham ein Sohn durch die Magd Hagar geboren wurde:
 
                        „ABRAM hatte eine ägyptische Magd, die hieß Hagar […]
                        HAGAR gebar ABRAM einen Sohn, und ABRAM
                        hieß den Sohn, den ihm HAGAR gebar, ISCHMAEL.“
 
Es fällt die Häufung der drei Namen in der kurzen Textpassage sowie die besondere Betonung des Namens Ismael auf, und ihnen kommt tatsächlich eine wichtige, die Authentizität des Textes sichernde Funktion zu. ABṚAṂ hat die Zahlenwerte 1 + 2 + 200 + 40 = 243, HAGAṚ 5 + 3+ 200 = 208: Die Addition der den Eltern zugeschriebenen Zahlen ergibt 451, und 451 ist genau der Zahlenwert für den Sohn ISCHṂAEL. Mit dieser Gegenrechnung ist der Text gesichert – hätte man nur einen Buchstaben dieser drei Namen verändert, ginge die Rechnung nicht mehr auf.
 
In dem in griechischer Sprache verfaßten Johannes-Evangelium begegnet an einer Stelle (Joh. 21.11) die vielumrätselte Zahl 153:
 
                        „Simon Petrus stieg in das Boot und zog das Netz auf das Land voll                             
                        großer Fische, hundertunddreiundfünfzig. Und wiewohl ihrer so
                        viel waren, zerriß doch das Netz nicht.“
 
Die Leitworte dieses Textes sind zweifellos „Simon“, den Jesus unter dem Namen Petrus zum Menschenfischer bestimmte)  und „Fisch“. Die Addition der Buchstabenwerte :
 
                        Σίμων   19 + 9 + 12 + 24 + 12  =  76
                        Ίχθύς     9 + 22 + 8 + 20 + 18   =  77
                                                                            153
 
 
 Die ungewöhnlichen  mathematischen Besonderheiten dieser Zahl hatte man schon in der Antike entdeckt, zum Beispiel daß ihre Quersumme 9 ergibt, während die Summe ihrer Kuben der Einzelziffern, das heißt jeder Zahl hoch 3  nämlich 1 + 125 + 27  sich auf 153 stellt, also diese Zahl selber ergibt. Ob der Schreiber des Johannes-Evangeliums darauf rekurriert, steht dahin. Näher liegt die Erwägung, daß er sich auf den alttestamentarischen Propheten Ezechiel (Ez. 47.9f.) bezieht:
 
                        „Fischer werden am Ufer stehen, von En-Gedi bis En-Eglaim […]
                        Es werden Fische von verschiedenen Arten da sein.“
 
Die Buchstabenwerte für hebräisch En-Gedi bzw. En-Eglaim zeigen die mannigfach verwandten Zahlen 153 und 17. Unter den schier unzähligen symbolischen Ausdeutungen, mit denen man die neutestamentarische Zahl 153 bedacht hat, ist die zumeist rezipierte, daß in ihr ein Symbol für die Juden- und Heidenmission durch Petrus und die Nachfolger der Apostel gegeben sei: Die Summe der seinerzeit bekannten Fischarten (153) repräsentiere die gesamte Menschheit, die im Netz der Kirche Christi geborgen werden solle.
 
Diese Ausdeutung findet eine überraschende, sehr versteckte Bestätigung in einer Formulierung des Apostels Paulus in seinem Brief an die Römer (8.17), welche die zum Christentum Bekehrten, die „Kinder Gottes“ sind, anspricht:
 
                        „TEKNA THEOU. EI DE TEKNA,  KLAERONOMOI
                        KLAERONOMOI MEN THEOU, SYGKLAERONOMOI DE   
                        CHRISTOU,  EIPER SYMPASCHOMEN INA KAI                                                                 
                        SYNDOXASTHÕMEN.“
 
                        („Kinder Gottes. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben,                               
                        Erben Gottes und Miterben Christi. Nur müssen wir mit ihm leiden,                    
                        um mit ihm verherrlicht zu werden.“)
                       
Die Zahlenwerte der griechischen Buchstaben ergeben addiert 1071, und das ist das Ergebnis der Multiplikation von 7 mit 153. Dasselbe Thema wie bei Johannes steht unter dem Signum derselben - bei Paulus allerdings nur verdeckt anwesenden - Zahl: 153.
 
Vielen modernen Menschen sind - anders als in den Epochen des Mittelalters und des Barock - die für das Thema relevanten Bibelstellen kaum noch, geschweige denn ihre Deutungsmöglichkeiten bekannt. Wie selbstverständlich das allerdings noch in den Kompositionen Johann Sebastian Bachs eine Rolle spielt, kann ein Blick auf zwei seiner Kantaten erweisen. In „O Ewigkeit, o Donnerwort“ (entstanden 1723) füllen die Worte Jesu über die  Bekehrung der Menschen genau 153 Noten; in „Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und wahrer Gott“ sind dem Schall der Posaune, mit dem alle durch Christus erlösten Menschen zur Seligkeit berufen werden, exakt 306 Noten, vie Verdoppelung der biblischen Zahl 153, zugeordnet.             
 
Was große Geister im Allgemeinen von Zahlen und Maßen gesagt haben, läßt sich wohl auch im Besonderen auf Worte der Bibel beziehen.
 
 „Gott hat bei der Schöpfung Geometrie getrieben“
        (der Astronom Johannes Kepler; 1571-1630)
 „Gott rechnet“
       (der Mathematiker Carl Friedrich Gauß; 1777-1855)
„Reine Mathematik ist Religion“
       (der Dichter Novalis; 1772-1801)
„In Allen ist ein Geist, der würkt ohn' Unterlaß:
 Von ihm kriegt Erd und Stern Gewichte, Zahl und Maß“
        (der Dichter Daniel von Czepko; 1605-1660)
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020
 
 Redaktion: Frank Becker