Michael Zeller
Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken
Aus meinem Corona-Logbuch II
12. Mai 2020
Unsere Tage verlaufen einförmiger als sonst, und doch schlagen sie dabei ein Tempo an, das einem den Atem nimmt. Wer glaubt, die Zeit dehne sich, wenn man sie gleichförmig verbringt, der irrt gewaltig. Das ganze Gegenteil ist der Fall: die Corona-Zeit fetzt einem um die Ohren, daß einem Hören und Sehen vergeht. Einhalten nirgends.
Seit wann ist das so?
Ein Blick zurück, an Hand meiner Notizen. Der Blick wie in graue Vorzeit. Als lägen die Ereignisse Jahre zurück.
Am 10.März werden in Deutschland alle Kulturveranstaltungen abgesagt, seit 16. März fallen die Schulen aus, die Kindergärten, die Grenzen werden geschlossen, das Reisen untersagt.
Eigentlich sind diese Maßnahmen knüppeldick, aber es braucht dann doch seine Zeit, bis sie bei einem einzelnen Menschen wirklich ankommen.
Der Tag, als es bei mir so weit war, daß ich begriff: du mußt dein Leben ändern! - dieser Tag war der 19.März, ein Donnerstag („Josefstag” steht auf meinem Kalender). Ihn habe ich rot angestrichen, und nicht wegen Josef.
Um 8,30 Uhr habe ich einen Termin beim Hausarzt, die jährliche Generaluntersuchung, erster Teil: Blutproben. Zur Praxis im dritten Stock geht ein Fahrstuhl. Die Kabine so eng, daß gerade zwei Personen reinpassen. Die erste Kabine lasse ich hochfahren, warte, aber da kommt schon die nächste Patientin. Ich will nicht unhöflich sein und fahre mit ihr hoch, in Atemnähe. Wohl ist mir dabei nicht. Weder die Arzthelferinnen noch die Patienten tragen Mundschutz, ich natürlich auch nicht.
Die Röhrchen mit meinem Blut sind rasch gefüllt. Ultraschall und EKG kommen in einer Woche dran. Beim Verlassen der Praxis bleibt der Aufzug unbenutzt, ich nehme die Treppe.
Das Schönste am jährlichen Gang zum Hausarzt für mich ist das Frühstück danach, in irgendeinem Café, wonach mir gerade der Sinn steht. Zur Blutprobe muß man ja nüchtern antreten. Heute morgen Fehlanzeige. Geschäfte und Lokale geschlossen. Das zum ersten Mal zu erleben, ist ein Schlag vor den Kopf. Es tut richtig weh. Bäckereien sind offen, doch ohne Kaffeeausschank. Sehr viel weniger Menschen in der Fußgängerzone als üblich, und in weitem Bogen gehen wir uns aus dem Weg. Komisch, wie schnell ich wieder zu Hause bin. Ohne jeden Genuß nehme ich, grauer Alltag, bei mir das Frühstück ein.
Vollkommen lustlos rüber zum Schreibtisch, an meine Arbeit. Vielmehr: ich versuche zu arbeiten. Nicht der leiseste Anflug eines Gedankens. Nur Überdruß, fast Ekel. Soll ich mich zwingen? Laß die Finger davon. Das kannst du später alles in die Tonne kloppen.
Müde bin ich eigentlich nicht, bloß schlapp, endlos. Ich fläze mich in meinen Lesesessel und dämmere dahin, zwischen Schlaf und Wachsein. Dusele wohl auch weg. Jedes Zeitgefühl betäubt. Da! Telefon. Ein Impuls vielleicht? B., die Freundin vom Bodensee. Die Stimme in Moll. Ihre Mutter sei gestorben, mit 88 Jahren. Das wolle sie mir mitteilen. Da ist kein Frohsinn zu erwarten. Auf dem Totenbett habe sie ausgesehen wie der „Schrei” des Edward Munch. Mund und Augen weit aufgerissen, der Kopf nur noch Haut und Knochen. Von diesem Anblick müsse sie sich erst noch befreien.
Mit dieser Neuigkeit im Kopf ist mir jetzt auch das Herumlümmeln im Sessel vermiest. An Arbeit ist schon gar nicht mehr zu denken. Raffe mich zu einer Lektüre auf. Wenigstens das. Abtauchen in ein Buch. Nicht die ganze Zeit totschlagen. Greife zu dem „Deutschen Tagebuch”, das der kommunistische Intellektuelle Alfred Kantorowicz zwischen 1945 und 1949 geführt hat, die spannenden Jahre in Berlin direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Hinüberwechseln in eine andere Epoche lenkt mich wenigstens ab von dem Trübsinn der eigenen Gegenwart.
Obwohl ich heute nichts getan habe, weder geistig noch körperlich, bin ich wesentlich früher müde als gewohnt und falle weit vor meiner Zeit ins Bett. Der Schlaf schwer wie ein Stein, ohne Traum.
Am nächsten Morgen rufe ich früh in der Praxis des Hausarztes an und sage den zweiten Termin der Generaluntersuchung ab, verschiebe ihn auf einen späteren Zeitpunkt. Wann genau – das lassen wir offen.
Dann gehe ich einkaufen. Wurstwaren, eingeschweißt. Achte peinlich genau auf das Verfallsdatum. Es muß weit genug von heute entfernt sein. Mai mindestens, Juni ist besser.
Draußen der allerschönste Sonnenschein. Lichtüberflutet liegt die Straße vor mir. Darüber aufgespannt ein makellos seidenblauer Himmel, ohne jede Wolke.
Ein Tag, der einem das Herz öffnen sollte.
Frühling! Heute beginnt der Frühling bei uns in Mitteleuropa …
© Michael Zeller 2020
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