„Davon glaube ich kein Wort!“

Norbert Wiener in der Anekdote

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Davon glaube ich kein Wort!“
 
Norbert Wiener in der Anekdote

 Von Ernst Peter Fischer

 
Der zerstreute Professor
 
Zu den noch auffälligeren Mitgliedern im Born Seminar in Göttingen gehörte der später als Vater der Kybernetik bekannt und berühmt gewordene Mathematiker Norbert Wiener, der nach seinem Aufenthalt in Deutschland Professor am berühmten Massachusetts Institute of Technology im amerikanischen Cambridge geworden ist und dort die heute so vertrauten Rechenmaschinen entwickelte und die Steuerungsprozesse untersuchte, die in Maschinen und in Lebewesen ablaufen müssen, damit beide ihre Funktionen übernehmen und ihre Aufgaben erfüllen können. Wiener wirkte stets etwas zerstreut, und so konnte man manche Geschichte von ihm hören ober über ihn erzählen. Hier eine kleine Auswahl davon:
     Eines Tages traf er auf dem Campus seiner Universität einen befreundeten Mathematiker, und die beiden kamen ins Gespräch. Nach einiger Zeit fragte Wiener, „Sagen Sie mal, bin ich von rechts oder von links gekommen, als wir uns getroffen haben?“ „Von links“, bekam er als Antwort.“ „Gut“, meinte Wiener darauf hin“, dann bin ich aus der Mensa gekommen und habe schon zu Mittag gegessen.“
     Wiener war verheiratet, Vater zweier Töchter und lebte mit seiner Familie in der Nähe der Universität. Eines Tages kündigte seine Frau an, man werde umziehen, nur zwei Straßen weiter, und dann teilte sie ihrem Mann die neue Adresse mit und händigte ihm den neuen Schlüssel aus. Als Wiener abends nach Hause kam, ging er zu dem alten Haus und stocherte vergeblich mit dem Schlüssel im dem Schloß herum, als ihm irgendetwas dämmerte. Seine Familie war umgezogen. Aber wohin? Er wanderte ein wenig durch die Straßen, als ihm zwei Mädchen begegneten. „Hallo ihr“, sprach Wiener sie an“, „wißt ihr zufällig, wo Professor Wiener wohnt?“ „Ja, Papa“, antworteten die beiden, „Komm mit, es ist nicht weit.“
     Und dann wird erzählt, wie Wiener offenbar tief in Gedanken versunken auf dem Campus seiner Universität steht und sich umschaut. Als ein Student es wagt, ihn anzusprechen und zu fragen, „Professor Wiener, brauchen Sie Hilfe?“, hellt sich die Mine des Gelehrten auf und er ruft aus, „Wiener! Das ist es, da bin ich nicht drauf gekommen.“
     Wiener liebte es, beim Lesen mit dem Buch umherzulaufen, wobei es auch passieren konnte, daß er nicht nur in den Gängen der Universität spazierte, sondern auch durch offene Türen ging. So geriet er in manchen Hörsaal, schlicht die Wände entlang und verließ den Raum wieder, während die dort Versammelten ihm zusahen und den Atem anhielten. Wiener schien sie nicht zu bemerken.
     Als Wiener selbst einmal eine Vorlesung hielt und in ihrem Verlauf auf die Newtonsche Mechanik zu sprechen kam, wollte er den freien Fall von Gegenständen vorführen, in dem er das Stück Kreide, das er in seiner Hand hielt, losließ. Allerdings fiel es nicht auf den Boden, sondern stieß gegen die Manschetten und verschwand dann in seinem Hemdsärmel. Da steckt es wahrscheinlich heute noch.
     Übrigens – auch der zitierte Satz von Max Delbrück, „Das war der schlechteste Vortrag, den ich je gehört habe“, kennt einen historischen Vorläufer, der mit Wiener zu tun hat. Sowohl Wiener als auch Delbrück lebten eine Zeit lang in Göttingen, an deren Universität auch der berühmteste aller Mathematiker, David Hilbert, lehrte und forschte, von dem es noch manche Geschichte zu erzählen gibt. Hilbert hatte eines Tages bei einem Vortrag von Wiener zugehört und anschließend an der üblichen Nachsitzung im Café Roons teilgenommen. Bei den Unterhaltungen meinte Hilbert, daß man früher länger über Vorträge hätte nachdenken und reden können, da sie damals besser gewesen seien. „In letzter Zeit war es besonders schlimm“, wie der Mathematiker meinte, um zu ergänzen, „Heute Nachmittag, da war eine Ausnahme. Und als Wiener sich auf das erwartete Lob freute, sagte Hilbert, „Der Vortrag heute Nachmittag war der schlechteste, den ich jemals gehört habe.“
 
 
© Ernst Peter Fischer
Aus: „Davon glaube ich kein Wort!“
Anekdoten und Geschichten aus der Welt der Wissenschaft
 Redaktion: Frank Becker