Eine Fülle von Überlegungen zur aktuellen und zukünftigen Ökonomie

Smail Rapic (Hrsg.) – „Jenseits des Kapitalismus“

von Johannes Vesper

Keine Unterhaltungslektüre
 
„Jenseits des Kapitalismus“ - eine Fülle von Überlegungen
zur aktuellen und zukünftigen Ökonomie
 
Die Frage nach der Zukunft unseres „business as usual“, also nach der Zukunft des Kapitalismus ist nicht neu. Bereits 2013 erschien ein wissenschaftlicher Sammelband: „Does capitalsm have a future“ (in Deutsch: Stirbt der Kapitalismus?). Und die Frage, seit Marx und Engels (siehe hierzu: www.musenblaetter.de/artikel und www.musenblaetter.de/artikel) diskutiert, ist gerade jetzt von erheblicher Aktualität: Werden wir aus dem Corona-Stillstand und dessen ökonomischen Folgen lernen und die kapitalistische Wachstumsspirale wie zuvor einfach wieder anwerfen können? Und wenn das gelänge, wäre das sinnvoll? Wem würde das nützen?

Schon 2016 gab es ein Symposion über das Thema an der Bergischen Universität zu Wuppertal, dessen Titel für den jetzt von Smail Rapic vorgelegten Band wieder aufgegriffen wurde. Was bedeutet es, wenn sich Ökonomen und Politologen um unsere Wirtschaftsordnung des neoliberalen Kapitalismus sorgen? Aus Wettbewerb um Vorteile ergibt sich nicht zwangsläufig ein Nutzen für alle. Und ob die Bevölkerung durch konsumistische Glückserlebnisse von Amazon, Google und Co. auf Dauer ruhiggestellt werden kann, ist fraglich. Wachstum und Gewinnmaximierung um jeden Preis führen jedenfalls nicht unbedingt zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicherheit. Der Einfluß auf die Demokratie als Staatsform gilt bei neoliberalistischer Aushöhlung staatlicher Aufgaben als problematisch. Viele halten den Staat grundsätzliche für den schlechteren Unternehmer, aber auch der Kapitalismus benötigt ihn, denn Rechtssicherheit, Bildung, Infrastruktur u.a. gelten als Standortvorteil. Der Staat stellt diese Kollektivgüter allen zur Verfügung und rettet im Ernstfall dann auch noch Banken und Unternehmen, wie aktuell nach Corona und wie zuvor schon nach Finanzkrisen (zuletzt 2008). Da mutet es paradox an, wenn Konzerne ihre Staaten trotzdem schwächen (z.B. durch Markt- und Steuermanipulationen). Lufthansa wie Bundesbahn, vor Jahren privatisiert, benötigen jetzt Staatshilfe zum Überleben. Durch Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer, bemäntelt mit Begriffen wie „Globalisierung“ oder „internationaler Arbeitsteilung“, und Zunahme von KI-gesteuerten Robotern werden weitere Arbeitsplätze hier verloren gehen. Arbeitsplatzverluste und Kapitalakkumulation destabilisieren die politischen Systeme, begünstigen populistisch-irrationale Politiker und vermindern die Volkssouveränität gegenüber multinationalen Konzernen, die mit dem Totschlagargument der Arbeitsplatzverlagerung nahezu alles durchsetzen. Bedingt durch zunehmende Verquickung von Lobby, Parlamenten und Regierungen werde eines Tages politische Macht von ökonomischen und politischen Eliten ohne Beteiligung des Volkssouveräns ausgeübt, schreibt Colin Crouch. All das könne zu einer existentiellen Legitimationskrise des neoliberalen Kapitalismus führen, unkt Nancy Fraser.
 
Über die Nachhaltigkeit dieses Wirtschaftssystems denkt Hans Christoph Binswanger nach. Seit der Abschaffung der Einlösegarantie von Papiergeld gegen Gold (Bretton Woods bis 1971) erklärt er, geben Zentralbanken Geld in unbegrenzter Menge aus, produzieren Banken Geld durch die Vergabe von Krediten („Geldschöpfung“), die später nach Produktion Verkauf zusätzlich produzierter Gütern auch zu einer realen Wertschöpfung und zu Wachstum und zur Steigerung des BIP führen. So hat sich die Geldmenge in den USA von 1980 bis 2014 versechsfacht. Der Verkauf der auf Kredit produzierten Güter führt aber zu einem gesamtwirtschaftlichen Überschuß nur dann, wenn ständig Geld durch den Verkauf neuer Waren zufließt. So entsteht eine Wachstumsspirale, ein Perpetuum mobile. Geldschöpfung und Wachstum sind notwendige Voraussetzungen für eine florierende Wirtschaft. Während die Selbstrettung aus dem Sumpf (Hochziehen am eigenen Haarschopf) des Barons von Münchhausen im 18. Jahrhundert schriftstellerischer Phantasie entsprang, sind Ökonomen vom System <<Geldschöpfung bringt Wachstum und Wohlstand>> überzeugt. Fehlt aber der Geldzufluß durch Geldschöpfung, droht Schrumpfung der Wirtschaft. Dreifach droht darüber hinaus unser aktuelles Wirtschaftssystems zu scheitern: 1. Selbstverständlich gilt der Wachstumszwang auch für die Finanzwirtschaft mit dem Ergebnis spekulativer Finanzblasen (z.B. 2008). Technologisch oder auch durch Verlagerung von Arbeitsplätzen bedingte Arbeitslosigkeit führt zu zunehmender Spreizung der Einkommen mit resultierender gesellschaftlicher Instabilität. Außerdem - und das ist eine gravierende Bedrohung - gelingt neoliberaler Kapitalismus erfolgreich nur mit ständiger Überschreitung planetarer Leitplanken bezüglich Ausbeutung von Rohstoffen, zunehmender Müllproduktion, Inkaufnahme eines gravierenden CO2-Anstiegs in der Erdatmosphäre mit globalem Temperaturanstieg und, durch all das bedingt, Zerstörung unser aller Lebensgrundlagen (Luft, Wasser, Landschaft) (siehe https://www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=26842&suche=G%C3%B6pel ). Eine mächtige Klimaschmutzlobby versucht ideenreich Änderungen zu verhindern.
 
Kapitalistische Marktwirtschaft, wie sie sich nach dem Zusammenbruch 1929 unter den Ideen von J.M. Keynes entwickelte, hat unbezweifelbar zu Wohlstand geführt, wobei aber schon in der 60-70er Jahren des 20. Jahrhunderts der strenge Kapitalismus korrigiert werden mußte und zumindest in Deutschland Korrekturen im Sinne der sozialen Marktwirtschaft erforderlich wurden. Was passiert auf Dauer mit diesem Kapitalismus, wenn Kapitalgeber in der Nullzinsphase keine Gewinne mehr erwarten können, wenn der Raubbau der Natur nicht weiter toleriert werden kann, wenn Europa 2050 klimaneutral sein will? Wird Nachhaltigkeit durch Einbezug der privaten Haushalte in die Geldschöpfung und durch regionale Zuteilung gefördert und die Konsumentensouveränität gesteigert? Profitieren davon gemeinnützige Initiativen und der Umweltschutz? Auch eine Änderung des Aktienrechts mit Trennung von Namens- und Inhaberaktien sowie Stiftungen und Genossenschaften, bei denen Spekulation keine Rolle spielen, könnten vielleicht zu einer nachhaltigen Wirtschaft beitragen. Fragen über Fragen. Reduktion des Wachstumszwangs und -drangs seien für eine nachhaltige Wirtschaft allerdings zwingend erforderlich, schreibt der Autor.
 
In den verschiedenen Beiträgen des Bandes machen sich Politikwissenschaftler, Volkswirtschaftler, Professoren für Governance und Public Management, Soziologen, Philosophen, Gedanken über Symptome und Tendenzen des neoliberalen Kapitalismus, der immer wieder zu bedeutende Krisen geführt hat (Dotcom-Krise 2000, Finanzkrise 2008, im Gefolge Eurokrise ab 2010, Coronakrise 2020 u.a.). In wieweit die Demokratie als Staatsform durch Kapitalismus bedroht ist, welche Resilienz bei welcher Disruption nötig ist, ob der Glaube an privatwirtschaftliche Interessen wirtschaftlich effizienter ist als staatliche Bürokratie, wem also das Outsourcen z.B. von Post, Bahn, Lufthansa oder gar der Gefängnisse (was in den USA ja passiert ist) eigentlich nützt, was Regional- oder Schwundgeld in Nullzinsphasen bewirken können, das alles wird in 10 Beiträgen erwogen und diskutiert. Der Herausgeber Smail Rapic, Professor für Praktische Philosophie und Philosophie der Neuzeit forscht an der Bergischen Universität Wuppertal u.a. zur kritischen Gesellschaftstheorie. In seinem Beitrag bettet er die Überlegungen in die Historie der Diskussion über Habermas bis hin zu Max Weber und dem Materialismus des 19. Jahrhunderts ein. Kurzbiographien aller Autoren und ein umfassendes Personenregister finden sich am Ende des Bandes. Keine Unterhaltungslektüre. Aber der Band bietet dem Interessierten eine Fülle von Überlegungen zur aktuellen und zukünftigen Ökonomie.
 
Smail Rapic (Hrsg.) – „Jenseits des Kapitalismus“
mit Beiträgen von Wolfgang Streeck, Colin Crouch, Nancy Fraser, Maria Behrens, Sebastian Müller, Hauke Brunkhorst, Smail Rapic, Hans Christoph Binswanger, Lutz Wingert
© 2019 Verlag Karl Alber (Herder Verlag), 302 Seiten, gebunden - ISBN: 978-3-495-49031-0
39,- €
 
Weitere Informationen: www.herder.de