Gotthold Ephraim Lessing: „Die Eule und der Schatzgräber“

Eine Tierfabel als Sprachkunstwerk

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Gotthold Ephraim Lessing:
„Die Eule und der Schatzgräber“
 
Eine Tierfabel als Sprachkunstwerk
 
Von Heinz Rölleke

 

Die Fabel ist eine uralte literarische Gattung, deren erste Blüte man dem den von zahlreichen Legenden umrankten antiken Dichter Aesop im 6. Jahrhundert vor Christus zuschrieb. Für den Ursprung und die frühen Intentionen der Fabeldichtungen ist es sehr bezeichnend, daß man schon bald glaubte, Aesop sei ein freigelassener Sklave gewesen und habe 'Literatur von unten' verfaßt, also Dichtungen, in denen die Sympathie ganz eindeutig den Schwächeren und Unterprivilegierten gehört und die auch deswegen besonderen Anklang beim Einfachen Volk fanden. Die kurzen allegorischen Geschichten, die meist in einem „Fabula docet“ münden, in dem aus den Erzählungen eine abstrakte, in der Regel leicht eingängige, stets gut zu verstehende Lehre abgeleitet wird, wurden rasch weitverbreitet und fanden zahlreiche Nachahmer, vom römischen Dichter Phaedrus über die mittelhochdeutschen Fabelsammler und -bearbeiter Stricker im 13. und Ulrich Boner im 14. Jahrhundert zu den Reformatoren Martin Luther (1483-1546) und Burkard Waldis (1490-1556) sowie zum überaus populären Hans Sachs (1494-1576), die für eine kurze Blütezeit der frühneuhochdeutschen Fabeldichtung stehen. Repräsentativ für eine neue Hochschätzung der Fabel in der Zeit der Aufklärung sind etwa der geniale Franzose Jean de La Fontaine (1621-1695), dessen Werke in ganz Europa schnell und dann zwei Jahrhunderte lang weit verbreitet waren, und der überaus populäre Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), dessen zum Teil bis heute noch bekannte Fabeln aus dem Jahr 1746 Friedrich der Große gleichrangig neben Phaedrus und Aesop stellte – das einzige Werk der gesamten deutschsprachigen Literatur, das er gelten ließ („c'est le petit genre des fables, un Gellert, qui a su se placer à côté de Phèdre et d'Esope“).
 
In dieser Epoche der Gattungsgeschichte trat der damals dreißigjährige Lessing in gewohnt scharfer und klarer Form in der Diskussion über Wesen und Sinn der Fabel auf den Plan: „Gotthold Ephraim Lessings Fabeln. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts. Berlin 1759“ (250 Seiten). In fünf Abschnitten entwickelte er seine Fabeltheorie und stellte dieser - in „Drey Bücher“ unterteilt - 90 von ihm selbst verfaßte, meist auf antiken Quellen basierende Prosafabeln voran. Forschung und Leserschaft haben diese angeblich nur als illustrierende Zugaben gedachten Texte bis heute einhellig als eigenständige und eigenwertige dichterische Leistungen von hohem Rang rezipiert und geschätzt.
 
In seiner Theorie wandte sich der junge Dichter vehement gegen die Meinungen der Schweizer Bodmer und Breitinger, um dann vor allem die zeitgenössische Fabeldichtung in der Nachahmung La Fontaines heftigst zu kritisieren (sich gleichermaßen über diesen großen Dichter zu mokieren, war er zu klug, da er weder dessen Genie noch die allgemeine Wertschätzung infrage stellen wollte, und auch weil er die wunderbaren poetischen Fähigkeiten des Franzosen in diesem Zusammenhang gleichsam widerwillig anerkennen mußte). Seine langatmige Kritik gipfelt in der Forderung, die Fabel müsse zur Prosasprache und vor allem zur gezielten Kürze der Aesopischen Dichtung zurückkehren; aller poetische Zierat, der von ihrer eigentlichen Intention nur ablenke, sei grundsätzlich zu verwerfen, denn dieser verunkläre vor allem das Fabula docet, die resümierende Lehre, auf die alles ankomme, die der Leser unabgelenkt rezipieren solle, und an deren klarer Aussage kein Zweifel erlaubt sein dürfe. Dabei lobt er zwar nicht ausdrücklich aber immerhin indirekt sein eigenes Verfahren, in manchen Fabeln den „moralischen Lehrsatz“ einfach wegzulassen, wenn man sicher sein kann, daß ihn der Leser selbst herausfinden wird (wobei Abweichungen von der Meinung des Dichters im Sinne aufklärerischer Toleranz billigend in Kauf genommen werden); zudem prägt sich die finale weise Lehre der Fabel dem Leser natürlich viel besser ein, wenn er sie selbst herausbringt.
 
Einer der von Lessing als Beispiel für seine theoretischen Auffassungen geschaffenen Texte soll hier vorgestellt werden und erweisen, daß seinen genialen Fabeldichtungen weitaus mehr als lediglich illustrativer Wert zuzusprechen ist: Es sind vollendete Meisterwerke der Dichtkunst, die noch heute jeden Leser ansprechen.
 
22. Die Eule und der Schatzgräber
 
            Jener Schatzgräber war ein sehr unbilliger Mann. Er wagte
            sich in die Ruinen eines alten Raubschlosses und ward da gewahr,           
           daß die Eule eine magere Maus ergriff und verzehrte.
            „Schickt sich das“, sprach er, „für den philosophischen
            Liebling Minervens?“
            „Warum nicht?“, versetzte die Eule, „weil ich stille            
           Betrachtungen liebe, kann ich deswegen von der Luft leben? Ich  
           weiß zwar wohl, daß ihr Menschen es von euren Gelehrten
           verlanget - - - “
           
Lessing versucht hier – tatsächlich mit dem größtmöglichen Erfolg - hinsichtlich der Gattung 'Fabel' nicht nur seine Vorstellung von deren ursprünglicher Form, sondern auch seine eigenen Ideale praktizierend zu verwirklichen.
     Die Fabel müsse um der Straffheit willen auf Versform und alle sonstigen Ausschmückungen verzichten, stattdessen nüchterne Prosa bieten.
     In jeder Fabel sollten nur wenige Akteure auftreten, und zwar hauptsächlich bekannte (Tier)Figuren, die tunlichst im Rahmen der ihnen seit Alters in allen Tierdichtungen zugeschriebenen gleichbleibenden allegorischen Bedeutungen agieren und funktionieren: den Löwen als scheinbar allmächtigen König, den Fuchs als intriganten Schlaukopf, die Eule als personifizierte Weisheit usw. Das erspart umständliche Einführungen und weitschweifige Erläuterungen und dient damit wiederum dem unbedingten Streben nach Kürze.           
     Hier ist es die den versierteren Fabellesern bekannte, mit ihren fabeltypischen Eigenschaften als stille, besonnene und - als Wappenvogel der Philosophengöttin Athene - vor allem weise Eule. Sie ist schon im Titel genannt und damit als Hauptperson definiert.
     Der dann zunächst auftretende „Schatzgräber“ ist ganz im Gegensatz dazu ein beliebiger, weder typischer noch in seiner Bedeutung irgendwie bekannter Mensch. Die Fabel erspart sich dennoch entsprechende Erläuterungen, unterstellt vielmehr durch das beigegebene „Jener“ geradezu provokativ, der Leser müsse ihn schon irgendwoher kennen – da dem nicht so ist, regt ihn dieser Trick zum Nachdenken über die Figur an. Das Advektiv „unbillig“ (ungerecht) hilft ihm dabei, und nun dürfte er gespannt sein, in welcher Form sich diese Ungerechtigkeit äußern werde.
     Die Beantwortung dieser Frage zögert der Dichter allerdings zunächst noch hinaus und lenkt stattdessen auf den Beginn der eigentlichen Handlung, die durch entsprechendes Vokabular („wagte sich“, „altes Raubschloß“) wie der Eingang zu einer abenteuerlichen und spannenden Räuber- und Spukgeschichte anmutet.
     Dann aber dürfte der darauf eingestimmte Leser so enttäuscht wie der „Mensch“ sein, dessen wagemutige Erwartungen (nach einem langsamen Erkennen in der Dunkelheit der Ruine - meisterhaft durch das Verb „ward da gewahr“, statt etwa durch 'sah' umschrieben) schnell zunichte werden: Statt des gesuchten Schatzes oder einer aufregenden Gespensterbegegnung trifft er auf eine beliebige, harmlose und scheinbar völlig unerhebliche Eule – tatsächlich aber ist es natürlich „ d i e Eule“, das dem Leser in seiner Bedeutung schon bekannte Fabeltier.
     Eine Kostbarkeit sorgfältigster Sprachbehandlung Lessings ist sein Vokabular: „[...] eine magere Maus ergriff und verzehrte.“ Die

Lessing-Denkmal, Berlin Tiergarten - Foto © Manfred Brückels
Eule ist bei ihrem erfolgreichen Fang nicht hektisch. Sie 'ergreift' die Beute nicht gierig oder erkennbar gewaltsam, zumal sie als genügsames Tier mit einer „mageren“ Maus vorlieb nimmt. Sie raubt und verschlingt die Maus als die ihr von Natur aus zustehende Beute nicht mit Gewalt, wie das wohl bei den Missetaten des hochnäsigen Schatzgräbers Gewohnheit ist. Sie zerhackt oder verschlingt das Mäuslein nicht hastig, sondern „verzehrt“ es in aller Ruhe und Selbstverständlichkeit.
     Nun wird die Handlung ausnahmslos nur noch in Dialogform weiter- und zu Ende geführt. Lessing hat die wörtlichen Reden genauso wie Aktionen in Fabel und im Drama immer als Teil der Handlung aufgefaßt. So macht wie in vielen Lessingfabeln folgerichtig denn auch hier der gesprochene Dialog zwei Drittel des gesamten Textbestandes aus. Meistens führen solche Dialoge durch Spruch und Widerspruch zu einem Lösungsvorschlag – hier aber verstummt der Mensch schon nach seiner verärgerten, arroganten und höhnischen Frage bezeichnenderweise völlig. Kaum hat der Dialog begonnen, ist der ungerechte Schatzgräber auch schon gänzlich besiegt.
     Die Eule hatte schon den beginnenden Dialog mit einer ersten, wie eine Ohrfeige „versetzten“ Gegenfrage unterbrochen; dabei weist sie zugleich die unangebrachte Bildungsprotzerei in die Schranken und 'übersetzt' die geschwollene Umschreibung „Lieblingsvogel Minervens“ durch eine schlichte Wendung, die den Begriff des der antiken Göttin geweihten philosophischen Denkers, der „stille Betrachtungen liebt“ (das griechische Wort 'Philosoph' bedeutet 'Liebhaber der Weisheit').
     Die zunächst scheinbar ergebnisoffene Gegenfrage der Eule „Warum nicht? [...]“ erwartet gar keine Antwort, weil der philosophische Vogel sich souverän im Recht weiß. Die Übertragung der Tiergleichnisse auf die Menschenwelt, wie sie jede Fabel in- oder explizit bietet, macht das „Fabula docet“ derart klar, daß es gar nicht mehr zu Ende formuliert werden muß; vielmehr wird der Leser die den Text beschließenden drei Gedankenstriche unschwer durch eigene Worte ersetzen und der intendierten Lehre daher desto mehr zustimmen können.
     In seinem ganz aufs Notwendigste beschränkten, kurzen Sprachkunstwerk verzichtet Lessing auf allen poetischen Schmuck. Er schafft ein Werk sui generis, obwohl er das pro forma immer bestritten hat, indem er die Fabeln nicht als Dichtungen sondern als Argumentationshilfen in politischen und juristischen Debatten verstand.
     Obwohl Lessing selbst seine künstlerische Leistung bei der „Verfertigung von Fabeln“ bescheiden heruntergespielt hatte, fanden sich immer wieder Kritiker. Jacob Grimm verurteilte die Lessing'sche Tendenz, seine Fabeln um jeden Preis so kurz zu fassen wie möglich, mit den Worten, daß „die Kürze der Tod der Fabel“ sei. Einige Germanisten taten sich in der Folge schwer, Lessings Fabeldichtungen in ihrer traditionellen Gattungsdefinition unterzubringen und kritisierten sie als „blutlos“ oder daß sie „einseitig“ auf Lessings „abzirkelnder Poetik“ basierten. Dagegen sollte man sich eher an die Äußerungen der Zeitgenossen halten. Der ebenso liebenswürdige wie damals überaus populäre Schriftsteller Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der sich durch die Kritik seiner eigenen Fabeln getroffen fühlen mußte, hatte die Größe von seiner uneingeschränkten „Bewunderung“ der Lessingfabeln zu sprechen: „Die edle Einfalt, welche zu erreichen mir nicht möglich gewesen ist“, sei hier „vollkommen“ erreicht; die Fabeln Lessings „stehen unter unsern wenigen klassischen Schriftstellern in meiner Bibliothek obenan“ (1760). Und das 1768 öffentlich erteilte Lob des großen Krikers Johann Gottfried Herder hat auch heute noch unbedingte Gültigkeit:
           
     „Und gewiß! Mehr als er denkt, ist Lessing im Vortrage seiner Fabeln Poet. Der ganze Reichtum von Wendungen und Munterkeiten, die feinste Kunst des Dialogus, die beinahe zum Epigramm zulaufende Kürze, der originale Schwung, der jede Fabel neu macht – ist das nicht poetischer Vortrag, der uns für Reime und Geklingel der Verse schadlos hielte?“
 

© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020

 Redaktion: Frank Becker