Wer den Tiger reitet…

Bottom Orchestra – „Song of Work“

von Frank Becker

Cover: Jan Bachmann
Wer den Tiger reitet…

oder

Arbeit für alle
 
Unter der Regie und mit Texten und Kompositionen von Kaspar von Grünigen ist ein ganz außergewöhnliches, musikalisch äußerst hochwertiges Album zur Arbeitswelt entstanden, das sich mit seinen Liedern dezidiert antikapitalistisch am aktuellen gesellschaftlichen Diskurs über die Arbeit beteiligt, ein Liederzyklus mit Potential zum Aufwecken. Die erste Fanfare kommt schon im Prolog mit Almut Kühnes markanter Stimme, die mit Clement Moreau und Claus Cornelius Fischer das chinesische Sprichwort 骑虎难下 aufgreift. Wer sich einmal mit dem kapitalistischen System einläßt, dem wird der Ausstieg kaum gelingen. Das instrumentale Zwischenspiel mit Philip Zoubek verschafft dem Hörer einen Augenblick der Kontemplation, bevor Almut Kühnes exzellente Stimme vor phantastischer Klangkulisse die „Schönen neuen Zustände“ preist: Kostenersparnis durch Niedriglöhne und Subverträge.
Der folgende instrumental-vokale „Businesslunch“ hebt erneut Almut Kühnes hinreißende Stimmartistik hervor.

„Was machst du?“ räumt mit der Gewerkschaft auf, „Die Kündigung“ zeigt mit Original-Textstellen die Hilflosigkeit einer vernichtenden Beurteilung gegenüber, und „Bottom up – der Protestsong“ zitiert mit ungeheurer Dynamik, Chorus und Almut Kühne Stefan Schmelz/Steffen Liebig mit deren Untersuchung „Ein neuer Protestzyklus? – Zum Wandel des sozialen Konflikts in Europa“. Man muß nicht mit allem einverstanden sein, aber gegen Forderungen wie:
Wir wollen: Einen flächendeckenden Mindestlohn!
Wir wollen: Verbindliche soziale Standards in der Produktion!
Wir wollen: Keine Nahrungsmittelspekulation!
Wir wollen: Keine Verharmlosung der aktuellen Situation!
Wir wollen: Keine Werbeanrufe auf meinem Telefon!
Ich will eine Kapitalgewinnsteuer - ja, gerne! Teuer!
ist wohl nichts einzuwenden.
 
Mit dem „Mantra des Neoliberalismus“ und dessen Konklusion : „…laß uns den Tiger töten und das neoliberale Mantra überwinden“ hat Kaspar von Grünigen ein kleines Stück Arbeiter-Theater geschaffen, das wieder von der Stimme Almut Kühnes getragen und geadelt wird.
Der „Epilog mit Baß“, gesprochen und gekratzt von Kaspar von Grünigen hat, nicht zuletzt durch den Sprachduktus, eine Menge von Franz Hohlers Cello/Stimm-Soli. Hymnisch auf die Arbeit endet das Album mit Chor, Solo-Stimme und Uli Kempendorffs Tenorsaxophon in der „Lärmalternative“, die so wirklich keine aufzeigt.
 
Es wäre für die gut und sicher verdienenden Damen und Herren der Politik – die sich ja ihre Gehälter selber zumessen dürfen -, zumal vor allem die, welche hochtrabend Begriffe wie „Sozial“ oder „Christlich“ in ihren Partei-Namen führen und ja, auch jene, die sich für links oder grün halten, dringend und grade jetzt an der Zeit, die „Songs of Work“ nicht nur zu hören, sondern in Konsequenz zu beherzigen. Auf einem Beiblatt sind alle zu lesen. Das Album ist Anklage, Aufruf und  Manifest.
Das Album ist eine Empfehlung der Musenblätter wert und wird zumindest, aber nicht nur seines musikalischen Ranges wegen (und hier besonders und vor allem unter Hervorhebung von Almut Kühnes Vortrag) mit unserem Prädikat, dem Musenkuß belohnt.
 
Bottom Orchestra – „Song of Work“
© 2020 WhyPlayJazz
 
Kaspar von Grünigen (Kontrabaß, Komposition, Texte) - Almut Kühne (Stimme) - Benjamin Weidekamp (Altosax, Klarinette, Bassklarinette) - Uli Kempendorff (Tenorsax, Klarinette) - Silvan Schmid (Trompete) - Lukas Briggen (Posaune) - Manuel Troller (Gitarre) - Philip Zoubek (Piano, Synthesizer) - Gregor Hilbe (Schlagzeug) - Miguel Ángel García Martín (Perkussion, Marimba)
Gäste: Jero Nyberg (Stimme) – Michael Haves (Sprecher) – Hans-Peter Pfammatter (Klavier)
 
Titel
1. Prolog mit Tiger  2:54 -  2. Teamfrühstück  2:12 – 3. schöne neue Zustände  6:12 – 4. Businesslunch  1:42 – 5. Was machst du?  4:45 – 6. Feierabend  3:35 – 7. Die Kündigung  5:07 – 8. Bottom Up – der Protestsong  7:31 – 9. Mantra des Neoliberalismus  4:51 – 10. Epilog mit Bass  1:09 – 11. Die Lärmalternative  6:03
Gesamtzeit: 46:06
 
Weitere Informationen: www.whyplayjazz.de