Der Aussteiger

Ein Reisefieber

von Rolf Nöckel

Rolf Nöckel - Foto © Frank Becker
Der Aussteiger
 
Fühlen Sie sich manchmal reif für die Insel? Ich meine, nicht nur reif für zwei oder drei Wochen, sondern so richtig? Wollen Sie dann alles hinter sich lassen, Ihre Zelte abbrechen und nur noch weg dahin, wo für immer die Sonne scheint? „Endlich frei und keine Geldsorgen mehr!”, jubelte Paul Gauguin, der Maler, 1891 bei seiner Ankunft auf Tahiti. Er war überglücklich. Um der verhaßten Zivilisation in Europa endgültig den Rücken zu kehren, hatte er in der Bretagne etliche seiner Werke verkauft. Nie mehr wollte er nach Frankreich und in die Zwänge der Gesellschaft zurück. Gauguin war sicher, in der Südsee sein Paradies auf Erden gefunden zu haben. Er sollte sich irren. So wie viele Aussteiger sich irren, die ihrer Heimat den Rücken kehren. Nur in den ersten Wochen fand Gauguin tatsächlich seinen ersehnten Frieden. Er schwelgte in farbenprächtigen Bildern. Die sorglosen Polynesier faszinierten ihn. Doch mit der Zeit lernte Gauguin auch die weniger anziehenden Eigenschaften der Insulaner kennen: Gemütsarmut, Egoismus, Unzuverlässigkeit, Aberglauben. Der Künstler zog frustriert weiter auf die Marquesas-Inseln. Als Saufkumpan feierte er Orgien mit den Eingeborenen. Paul Gauguin wurde zum Insel-Star - was mit Achtung und Freundschaft nichts zu tun hatte. Der Aussteiger spürte verzweifelt, daß auch bei den Menschen der Südsee die wahre Glückseligkeit nicht zu finden war. Er wurde zum Gefangenen zwischen zwei Welten. Menschen sind rastlos - das ist der Urtrieb für das Reisen. Und immer wollen sie genau das, was sie nicht haben: Sonne, Anerkennung, Liebe. Nie sind sie zufrieden mit dem, was sie umgibt. Und wenn mitten im irdischen Paradies das Gefühl von Sinnlosigkeit aufkommt, stellen sich schlimmere Ängste ein als die, vor denen sie geflüchtet sind. Mit 53 Jahren starb der weltberühmte Künstler Paul Gauguin an Suff und Syphilis. Auf seiner Staffelei stand, unter Palmen, sein letztes Bild. Es zeigte ein tief verschneites Dorf in der Bretagne.
 


Paul Gauguin, Village dans la neige (Beispielbild)

Text mit freundlicher Erlaubnis aus „Reisen ist Glück“ von Rolf Nöckel (1953-2017)
2015 Hayit Medien, Köln