Ein ehrenwerter Versuch

Florian Heyden – „Walter Ulbricht – Mein Urgroßvater“

von Frank Becker

Ein ehrenwerter Versuch
 
Walter Ulbricht, ein Mensch wie du und ich?
 
Bis heute habe ich die Stimme meiner Pankower Großmutter väterlicherseits, einer resoluten Dame im Ohr, wenn ein Bild Walter Ulbrichts in einer Ost-Berliner Zeitung zu sehen war oder seine sächselnde Fistelstimme aus dem Radiolautsprecher krähte: „Junge, ich kann diesen Spitzbart nicht ausstehen, schalt das sofort ab! Er war die Haßfigur schlechthin, denn er hatte sie am 13. August 1961 von ihrem einen Sohn in West-Berlin und ihrem anderen Sohn in Westdeutschland - meinem Vater - mit einer für sie unüberwindbaren Mauer mit Stacheldraht und Todesstreifen getrennt. Wer würde je seine Verlautbarung vergessen, mit der er am 15. Juni 1961 vehement bestritten hatte, was knapp zwei Monate später grausame Wirklichkeit wurde. Und wer würde je die Menschen vergessen, die auf Befehl des Staatsratsvorsitzenden und Despoten Walter Ulbricht erschossen wurden, die man im Todesstreifen verbluten ließ, nur weil sie von Deutschland nach Deutschland wollten. 
Noch heute spüre ich die Beklemmung, die mich in den düster verschachtelten Gängen des Bahnhofs Friedrichstraße und seiner Grenzkontrollanlagen ergriff, habe ich den eigentümlichen Geruch dort in der Nase, erinnere ich mich an die endlosen Warteschlangen, wenn ich als 14jähriger Junge mit Westwaren im Einkaufsnetz zu meiner Oma fuhr. Das und das allgegenwärtige Foto Walter Ulbrichts sind meine früheste Erinnerung an die DDR.
 
Walter Ulbrichts (1893-1973) Urenkel Florian Heyden legt nun ein Buch vor, mit dem er, sehr sorgfältig recherchiert, das Leben dieses Mannes neu dokumentiert, weil er mit dem Bild unzufrieden ist, das die Geschichtsbücher von seinem Urgroßvater zeichnen – einem sehr unvorteilhaften Bild, wie man sich vorstellen kann. Er hat aus der Familiengeschichte und wohl auch aus der zugänglichen Literatur wie Johannes R. Bechers Ulbricht-Biographie Fakten, Urkunden und Fotos zusammengetragen, die helfen sollen, ein differenzierteres Bild Walter Ulbrichts zu vermitteln, seines Lebens unter dem unermüdlichen Engagement für die Sache des Kommunismus. Es ist in der Tat ein ungemein interessantes Buch geworden, das den Weg des politisch interessierten begabten Handwerkers (Tischler) über die Sozialdemokratie schon 1919 zum beinharten Kommunisten, Berufsrevolutionär und später zum konsequenten Widerständler gegen das Nazi-Regime nachvollzieht. Letzteres ist immerhin ehrenhaft, denn wie im Buch der Philosoph Avishai Marglit zitiert wird, werden Menschen aus moralischen Motiven Kommunisten, was sich unmöglich vom Faschismus behaupte läßt. Wohl wahr.

Der Weg Walter Ulbrichts führte ihn als kommunistischen Agitator in die Straßenkämpfe der Weimarer Republik, immer wieder nach Moskau zur Komintern, unter falscher Identität in die Illegalität in Österreich – wofür er mit kurzer Haft bestraft wurde –, zurück nach Berlin, wo er gemeinsam mit seinem Kampfgefährten Erich Mielke nach durch Mielke begangenen Polizistenmorden steckbrieflich gesucht wurde und schließlich nach der Übernahme der Macht durch die Nazis und seiner Ausbürgerung über Paris und Prag schließlich endgültig nach Rußland. Daß er 1936 bei den antifaschistischen Brigaden in Spanien als Agitator gegen Franco auftrat, ist im kommunistischen Lager durchaus karrierefördernd gewesen. Im Moskauer Exil erwies er sich als ergebener Stalinist und eiskalter Taktiker, der alle Säuberungsaktionen der Geheimpolizei Tscheka/NKWD überlebte. Während des Zweiten Weltkriegs konnte Ulbricht an der russischen Front durch propagandistische Überzeugungsarbeit kaum einen Anteil daran leisten, daß die deutsche Front bröckelte, deutsche Soldaten überliefen und so der Kriegsverlauf ein wenig verkürzt wurde. Dem Schicksal der dann gefangen genommenen deutschen Soldaten, die zu zigtausenden in den russischen Lagern zu Tode kamen, stand er gleichgültig gegenüber - sie hatten ja nicht auf ihn gehört. Nach Kriegsende wurde er zum willfährigen Statthalter Stalins in Ost-Berlin, baute mit der „Gruppe Ulbricht die SED-Diktatur auf und überlebte auch Stalins Tod politisch. 
 
Ulbricht war, wir wissen das aus der Geschichte, ein kompromißloser Parteisoldat, ein Apparatschik, der ohne Rücksicht auf sich oder andere die Unterordnung unter die Komintern und die KPdSU über alles andere stellte, seine Aufgabe im Streben nach persönlicher Macht und der des Kommunismus sah. Als Staatsratsvorsitzender der DDR und Vorsitzender des ZK der SED zeigte ersich 21 Jahre lang als kaltblütiger Diktator. Da hilft auch nicht, die menschliche Seite Ulbrichts, den Familiemenschen zu beleuchten, der - man glaubt es kaum, wenn man seine Unrast betrachtet - zwei Ehen und eine langjährige Liaison führte, in denen er wie in der Politik und Parteiarbeit stets mit Glück die Wurst nach der Speckseite warf. Immerhin blieb die dritte Frau Lotte, die er seinem Parteigenossen Wendt ausgespannt hatte und die vielleicht noch eine Spur hartherziger war als er, von 1935 bis zu seinem Ende 1973 an seiner Seite, überlebte ihn bis 2002. Neben zwei leiblichen Kindern hatte er eine Adoptivtochter - Beate - die, weil sie nicht funktionierte, von der Universität entfernt, verstoßen und zur Fließbandarbeit in einer DDR-Fabrik gezwungen wurde. Als ihre Identität dort durchsickerte, wurde sie von Fabrikarbeiten vergewaltigt „als Strafe für die Taten ihres Vaters“. Ulbricht ließ dieses Verbrechen nicht verfolgen.  Ulbricht wurde 1971 mit Einverständnis Moskaus von Erich Honnecker in einem Handstreich abgelöst. Er starb 1973. Beate wurde Alkoholikerin und nach der Wende 1991 Opfer eines bis heute unaufgeklärten Mordes.Bei der Trauerfeier 1973 saßen Lotte Ulbricht, Beate Ulbricht (gesch. Matteoli) und Ulbrichts lebenslange Freundin Rosa Michel (eigentlich Marie Wacziarg) und Mutter seiner abgeschobenen Tochter Rose nebeneinader in der ersten Reihe.

Das alles aber spielt in Florian Heydens Buch nur eine geringe bis gar keine Rolle, denn seine Aufzeichnungen enden 1945. Das Danach, Walter Ulbrichts politische Karriere in der DDR, sein Vasallentum gegenüber der Sowjetunion und der KPdSU sowie die oben angerissenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen sein eigenes Volk und die Rücksichtslosigkeit gegen seine Familie bleiben unbeleuchtet. Das nimmt dem Buch das, was man journalistische Seriosität nennen könnte, denn ein Chronist kann nicht da aufhören, wo es für seine Hauptperson unangenehm wird. Florian Heyden möchte seinem Urgroßvater gerecht werden. Das ist ehrenwert. Die politische und die moralische Realität auszublenden ist es nicht.
Ein Namens-, Stichwort-, Orts- und Quellenverzeichnis fehlt leider.
 
Florian Heyden – „Walter Ulbricht – Mein Urgroßvater“
© 2020 Das Neue Berlin, edition ost, 352 Seiten, Gebunden, mit zahlreichen s/w- Abbildungen, Lesebändchen - ISBN-13: 9783360018939
24,- €
 
Weitere Informationen: www.eulenspiegel.com