Bleibende Stimme einer vergangenen Welt

Karl Otto Mühl (1923 – 2020)

von Andreas Steffens

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Andreas Steffens
 
Bleibende Stimme einer vergangenen Welt
Karl Otto Mühl (1923 – 2020)
 
 
 
Manchmal
holt man ein Wort
herauf aus der Tiefe
zieht es hoch
und sieht
die ganze Welt
hängt daran
 
Karl Otto Mühl, Brunnen
 
 
Einen wie ihn wird es nicht mehr geben.
       Er hat der Formel, in der sich das Bemühen um heraushebende Würdigung oft so angestrengt wie hilflos äußert, Substanz verliehen. Mit Karl Otto Mühls Tod endet nicht nur eine Epoche der deutschen Literatur.  Auch eine ihrer Ausprägungen, die es in der spezifischen Gestalt, die er ihr gab, nicht mehr geben kann. Eine Literatur, die ihre Vorstellungskraft an den erlebten Wirklichkeiten der eigenen Zeit nicht nur erprobte, sondern auch aus einem nur ihr eigenen gesellschaftlichen Milieu bezog. Die nicht utopisierend auswich, sondern genau hinsah. Die schilderte, wie es war, statt zu klagen, daß es nicht sei, wie es sein solle. 
Wie Ingeborg Drewitz, Wolfdietrich Schnurre, Gabriele Wohmann, Dieter Wellershoff schrieb er eine Literatur des Trivialen, ohne daß Trivialliteratur dabei herauskam. In seinen Theaterstücken, seinen Romanen und Erzählungen gelang ihm eine Versöhnung mit dem Banalen durch dessen respektvoll behutsame Übersetzung in eine nicht-banale Sprache. So entstand ein poetischer Realismus jener neuen Mittelschicht, die die Nachkriegsgesellschaft hervorbrachte. Mit deren schleichendem Verschwinden büßte er seinen Nährboden ein.
       Das breite Publikum, bei dem Mühl mit seinen rasch aufeinander folgenden Theaterstücken und Fernsehspielen der 1970er Jahre seine großen Erfolge feierte, fand sich in ihnen wieder, und konnte sich doch aus seinen Alltagsniederungen erhoben fühlen, ohne mit Erbaulichkeit oder missionierender Sozialpädagogik belästigt zu werden. Mit ihnen gelang Mühl das Kunststück, gemeinsame Wirklichkeit in Kunst zu verwandeln, ohne das eine im anderen zu verleugnen.
       Sich gleichermaßen des Moralismus wie der politischen Agitation enthaltend, fand er zu einer eigenen Ausprägung dessen, was Heinrich Böll in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1966 als Ästhetik des Humanen beschrieb, deren Gegenstände das Wohnen, die Nachbarschaft und die Heimat, das Geld und die Liebe, Religion und Mahlzeiten seien. Anders als Böll oder Wellershoff auf Programmatik und Literaturtheorie verzichtend, schuf Mühl aus dieser Perspektive eine Poetik der Lebenswelt derer, die das gesellschaftliche Leben trugen, ohne selbst weder als ‚kunstfähig‘ zu gelten, noch an Kunst interessiert zu sein.
       Er gab denen kulturelle Wahrnehmbarkeit und Stimme, die in der Kultur bis dahin kaum vorgekommen waren. Jener neuen Mittelschicht, die der gesellschaftliche Wandel der Wiederaufbauzeit nach dem Weltkrieg hervorbrachte, deren Tüchtigkeit sie mit einem Selbstbewußtsein ausgestattet hatte, das sie nun nach einer umfassenden Teilhabe verlangen ließ, die sich nicht mehr auf Ökonomie und Politik beschränken wollte. Denen, die unter der Aufbruchsparole einer ‚Kultur für alle‘ für sich entdeckten, daß Kultur nicht nur fremdes Bildungsgut war, sondern bereichernder Teil eigener Lebensführung sein konnte. Da sprach einer mit ihrer eigenen Stimme zu ihnen, in einer Sprache, die sie an dem teilhaben ließ, was bis dahin nicht zu ihrem Leben gehört hatte: Poesie genauer Wahrnehmung, Klarheit in der Beurteilung des eigenen Lebens, seiner Umstände, Nöte und Sehnsüchte in festem Selbstvertrauen. Das Milieu kannte Mühl genau, denn er lebte darin. War selbst einer jener Angestellten, von deren Leben er erzählte, die begannen, die Künste zu entdecken.
       Seine Poesie des Banalen entfaltete er ohne artistischen Anspruch. Verzicht auf konkurrierenden Stilwillen als Waffe in der Arena der Rangeleien um Aufmerksamkeit, Auflagen, Rezensionen und Stipendien machte ihn zu einem souveränen Stilisten. Er sagte, was er zu sagen hatte, so, wie er es konnte, ohne sich publizistisch wichtig zu tun, umstandslos und genau. Um Authentizität mußte er sich nicht bemühen. Er besaß sie.
       Als Schriftsteller trat er erst spät in seinem Leben hervor. Und hatte doch in jüngsten Jahren begonnen, zu schreiben. Zu ersten Veröffentlichungen brachte es bereits der Jugendliche. Und schrieb weiter in den langen Jahren als Soldat und Kriegsgefangener, deren Erfahrung elementarer Unsicherheit ihn dazu bestimmte, zwar schreibend zu leben, aber aus dem Schreiben keinen Beruf zu machen. Die nach der Rückkehr in das zerstörte Wuppertal gewählte Existenz als kaufmännischer Angestellter war ihm so unentbehrlich, wie die spärlichen Freizeitstunden am Schreibtisch, an dem er als leidenschaftlicher ‚Handwerker‘ ebenso diszipliniert an seinen Theaterstücken und Romanen arbeitete, wie er seinen Beruf ausübte. Dieser versorgte ihn Tag ein, Tag aus mit dem, was er in seine Sprache brachte. Indem er sein Leben schrieb, konnten diejenigen zu seinem Publikum werden, mit denen er es alltäglich teilte.
       So wurden seine ersten Romane, der Siebenschläfer von 1975 – dessen lieblos schlampige Ausstattung dem Luchterhand Verlag zu ewiger Schande gereicht – und Trumpeners Irrtum von 1981, zu Stücken einer literarischen Sozialgeschichte seiner Zeit, die zu den unentbehrlichen Quellen ihrer künftigen Geschichtsschreibung ebenso gehören werden wie die Romane Heinrich Bölls oder Martin Walsers. Ohne es als verfehlte Lebensform zu denunzieren, schuf er darin ein genaues, unbeschönigtes Bild jenes neuen Kleinbürgertums, das sich seitdem zwar zum globalen Sozialstandard aufgeschwungen, seine Lebensform und Mentalität dabei aber so sehr gewandelt hat, daß es sich in dem Blick, den Mühl und seine verwandten Zeitgenossen auf es richteten, nicht mehr wiederfindet. Umso weniger, als es selbst keinerlei Verlangen mehr danach hat, sein Dasein künstlerisch beglaubigt zu finden. In dieser kurzen Epoche gelang Mühls empathischem Realismus der Beweis, daß man sich als ‚Kulturmensch‘ in einem klassisch ungeistigen Milieu produktiv behaupten kann, ohne ins Exil des Elfenbeinturms flüchten zu müssen.
       Nachdem er in dem späten Roman Nackte Hunde, der 2005 im NordPark Verlag erschien, seine frühen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen verarbeitete, womit er die Vorgeschichte zum Siebenschläfer nachholte, kehrte er mit Hungrige Könige im Jahr darauf noch einmal zur Thematik der beiden frühen Romane zurück. Da aber hatte die Sozialgeschichte ihn um sein Publikum gebracht. Die Zeit einer breiten öffentlichen Wahrnehmung war vorüber. Was ihn nicht hinderte, in gelassener Disziplin weiter zu schreiben. Es folgten Gedichtbände, Erzählungen und Aphorismen, in kluger Selbstbescheidung Geklopfte Sprüche betitelt, zuletzt eine Sammlung von Nekrologen auf Freunde und Wegbegleiter.
       Boshaft muß Kunst sein. Diese Maxime aus seinem Siebenschläfer hat Karl Otto Mühl selbst nicht befolgt. Seine Kunst ist von der Freundlichkeit durchdrungen, die ihn in brechtischem Sinne als Person auszeichnete. Hart konnte er sein, auch hölzern; böse nicht. So zugewandt und neugierig er in seiner Literatur war, so sehr war er es im persönlichen Leben, zu dessen erinnerungswürdigsten Zügen eine große Begabung zur Freundschaft zählte. Zu deren Pflichten gehört die Erinnerung als Vergegenwärtigung über den Tod hinaus. Sie bewahrt ein Leben, das endete, für das Leben, das fortbesteht, so, wie Mühl es in seiner Sammlung von Abschieden Totenwache von 2018 tat.
 
Einmal noch riechen
der Wüste Duft
ahnen die funkelnde Hoffnung
auf Zukunft und Frauen
daheim die Suppe
die Gans auf dem Tisch
den Weihrauch im Dom
die Feuchte im Wald
den Wind vom See
 
       Was er in diesem späten Gedicht Erinnerung in dem 2008 erschienenen Band Laß uns nie erwachen beschwor, hat er in seinem Schreiben gestaltet, eine literarische Elementarkunde des Lebens, so, wie es zu seiner Lebenszeit unter deren spezifischen historischen Bedingungen geführt werden konnte, und mußte. Ihn lesend, bleibt gegenwärtig, was ihn durch sein Leben trug, das geschrieben zu haben, eine Welt gegenwärtig hält, die mit den Letzten seiner Generation endet.
 
Andreas Steffens 2020