Verstehen wir unsere Klassiker noch richtig?

Probleme mit veralteten Wortbedeutungen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 
Verstehen wir unsere Klassiker noch richtig?
 
Probleme mit veralteten Wortbedeutungen
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Die Sprache unserer klassischen Dichtungen wird für die jüngeren Generationen zunehmend unverständlicher, vor allem weil alte Vokabeln im Zuge der Sprachentwicklung der vergangenen drei Jahrhunderte scheinbar unbeschadet überlebt haben, während sich ihre tatsächlichen Bedeutungen aber nicht unwesentlich verändert haben. Diese Tatsache wird allmählich als Problem erkannt. Es ist ein spezifisches Problem für den deutschsprachigen Raum, denn hierzulande ist der Zeitraum der klassischen Periode unserer Literatur zwischen Lessing und dem späten Goethe von unserer Gegenwart entschieden kürzer als in anderen Nationalliteraturen. Dort mußte man sich schon länger damit abfinden, daß eine jüngere Generation den originären Wortlaut der zeitlich viel weiter zurückliegenden Dichtungen nicht mehr recht verstand: von der altgriechischen Klassik von Homer bis Euripides, von Dante im Italienischen über Shakespeare und Cervantes im Englischen bzw. Spanischen bis hin zur französischen Klassik mit ihren Repräsentanten Racine und Molière. Dort hat man längst eingesehen, daß man die Klassiker entweder mit einiger Mühe in ihrer mehr oder weniger fremd gewordenen Sprachform oder in immer wieder modernisierten Fassungen rezipieren konnte – ein unauflösbares Dilemma, das in Deutschland erst seit 1800 deutlich wurde, als man eine mittelhochdeutsche Klassik (um 1200 vom Nibelungenlied bis zu Walther von der Vogelweide) zu entdecken begann: Entweder man machte sich die Mühe, die alten Dichtungen in ihrer eigenen Sprache verstehen zu lernen, oder man mußte sich mit - zunächst meist unzulänglichen - Übertragungen ins Neuhochdeutsche behelfen. Die Brüder Grimm haben dem Zustand abzuhelfen versucht, indem sie zum Beispiel den nach 600 Jahren schnell wieder populär werdenden „Armen Heinrich“ des Hartmann von Aue synoptisch in zwei Versionen edierten, links den Originaltext aus dem Jahr 1190, rechts ihre Übersetzung aus dem Jahr 1815 – ein Versuch, der in der Folge leider nicht mehr konsequent weitergeführt wurde, so daß das alte Original und modernisierte Fassungen in der Regel selbständig nebeneinander stehen. Das Grimm'sche synoptische Verfahren scheint sich für die zweite deutsche Klassik um 1800 (noch) nicht zu eignen. Es würde ridikül und wohl auch unangemessen wirken, wenn man etwa eine Novelle Goethes in der Originalfassung neben eine modernisierte Fassung stellen wollte, die zwar nur mit relativ wenigen, aber doch bedeutsamen Übersetzungen mißverständlich gewordener Worte aufwarten müßte. Wohl die einzige Lösung, die sich für dieses Problem anböte, wäre eine durchgehende Kommentierung unter oder nach den Texten. Doch damit kann das Sprechtheater nicht dienen: Schließlich können die Schauspieler bei einer Aufführung eben platterdings nicht von der Bühne herab inzwischen mißverständlich gewordene Worte erläutern oder kommentieren. Zwar ist man vom modernen Regietheater einiges gewohnt, was Textverdrehungen oder gar Veränderungen betrifft – das aber wäre in dieser Form wohl keinem Publikum zu vermitteln.
 
Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ aus dem Jahr 1767 ist wahrscheinlich das älteste unter den Theaterstücken, die auf deutschen Bühnen noch einigermaßen regelmäßig gezeigt werden. Inder neunten Szene des ersten Aktes läßt sich das adelige Fräulein von Barnhelm durch einen Diener beim Major Tellheim entschuldigen, daß ihre Ankunft unfreiwillig zur Kündigung von dessen Logis durch den habgierigen Wirt geführt hat:
 
            DER BEDIENTE
            Meine Herrschaft hört, daß er durch sie verdrängt worden. Meine Herrschaft weiß zu leben,
            und ich soll ihn desfalls um Verzeihung bitten.
            TELLHEIM
            Mein Freund, ich habe Euern Auftrag schon gehört. Es ist eine überflüssige Höflichkeit von Eurer Herrschaft,
            die ich erkenne, wie ich soll. Macht Ihr meinen Empfehl.
 
Ich habe noch keine Aufführung gehört oder gesehen, in dem die Antwort Tellheims nicht im Ton großer Verärgerung geboten wurde etwa in dem Sinn, die Sache sei schlimm genug, aber sich dafür auch noch zu entschuldigen, wirke wie Hohn und sei daher in jeder Hinsicht so überflüssig wie geradezu beleidigend.
 
Damit wird der von Lessing intendierte Sinn verfehlt und auch die indirekte Charakterisierung des noblen adeligen Majors durch ausgezeichnete Umgangsformen, durch seine Höflichkeit eines Mannes von feinstem Anstand mit makelloser schlechthin liebenswürdiger Politesse geradezu ins Gegenteil verkehrt, denn er meint tatsächlich, die vom Diener überbrachte höfliche Entschuldigung seiner Herrin fließe vor Herzenshöflichkeit geradezu über – und nicht, er weise diese Entschuldigung des an den misslichen Verwicklungen ja völlig unschuldigen Fräuleins verärgert und barsch zurück. Er versteht und braucht das Adjektiv „überflüssig“ noch ganz in der zu seiner Zeit selbstverständlich Bedeutung. Das heutige Verständnis des Wortes stellt nicht nur das Wesen des Majors in einem so gerade nicht gemeinten Sinn dar, wenn man seine Antwort in der Intention als Unfreundlichkeit, ja Schroffheit oder gar Galligkeit über die Rampe bringt. Lessing läßt 1753 in seinem 15. Kritischen Brief seine Auffassung des Wortes „überflüssig“ klar erkennen: „Der Sänger des „Messias“ hat überflüssige Schönheiten“, das bedeutet ein sehr hohes Lob, denn dieses epochemachende Werk wird von ihm mit keinem Tadel bedacht, als den man das Adjektiv heute unweigerlich versteht. Es meint also, daß Klopstocks grandiose Dichtung von poetischen Schönheiten nur so überfließt.
 
Um für weitere Beispiele beim Lustspiel Lessings zu bleiben: Der Wirt behauptet vom Fenster im elenden Domizil, in das er Tellheim verwiesen hat, die Aussicht sei „sehr schön“ gewesen, „ehe sie der verzweifelte Nachbar verbaut hat“, und Franziska seufzt: „Wer kann in den verzweifelten großen Städten schlafen.“ Dabei handelt es sich keineswegs um eine Personifizierung der modernen Großstadt, die wie ein Mensch 'mit Verzweiflung' über sich auf Schicksalsandrohungen reagiert, wie sie erst im Expressionismus Mode wurde; vielmehr ist „verzweifelt“ hier genau wie in den Worten des Lessing'schen Wirtes in der alten Wortbedeutung zu verstehen, nämlich 'verwünscht', 'vermaledeit', 'verdammt' (vgl. Grimms „Deutsches Wörterbuch“, Bd. XII.1). Aus der großen Zahl ähnlicher ganz radikaler Bedeutungsveränderungen zum Beispiel bei den Adjektiven 'gleichgültig', 'gemein', 'schlecht', 'sonderbar' 'umständlich' sei nur noch das letztere kurz mit den Worten meines verehrten akademischen Lehrers Fritz Tschirch erläutert:
 
„'Was soll ich nun weiter umständlich sein?' (Goethe). Dem seitenraffenden Leser unserer Tage könnte entgehen, daß hier sicher nicht […] unnötige Breite und Weitschweifigkeit der Darstellung abfällige Kritik geübt werden soll – das Wort stellt vielmehr eine alle Umstände umfassende erfassende, ausführliche, eingehende sachliche Auseinandersetzung als höchste anerkennens- und erstrebenswerte dar […]. Ebenso wenig gedachte Johann Christoph Adelung mit dem ersten Wort im Titel seines erfolgreichen Buches 'Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache' (1792) von dessen Kauf abzuschrecken, sondern wollte gerade dazu anreizen: empfehlend weist das Wort den Käufer darauf hin, daß er in diesem Buch selbst knifflige und abgelegene Fragen der deutschen Grammatik behandelt finden würde. In dieser Verwendung spiegelt 'umständlich' als eines der Lieblingswörter der deutschen Aufklärung deren Besessenheit, bis ins kleinste Detail hinein zu überzeugen.“
 
Erst seit der Romantik gilt „umständlich“ als eine Charakterisierung von Unwesentlichem und damit Überflüssigem (im modernen Sinn). Man will keine Umstände mehr anführen und untersuchen, die nicht zum Wesen der Sache gehören.
 
Diese unabweislichen Gegebenheiten der ständigen Umwertungen könnte und müßte man in einer Textausgabe unbedingt kommentieren. Daran aber hapert es in den jüngeren Editionen zunehmend, weil man in der Regel nur inzwischen ausgestorbene oder gänzlich mißverständlich gewordene Wendungen erläutert. Dieses Aussparen einer sachgerechten Kommentierung führt zuweilen gar zu grotesken Eingriffen in den alten Text selbst. So konjizierte man zum Beispiel jüngst in einer Kritischen Ausgabe der Werke des Frühklassikers Wieland die nur scheinbar durch einen Druckfehler entstellte Wendung der Originalausgabe „ekle Küsse“ zu „edle Küsse“, nicht ahnend, daß im 18. Jahrhundert„ekle/eklige“ durchaus noch im alten Wortsinn als 'kenntnisreich', 'raffiniert' verstanden wurde (Lessing spricht in diesem Sinn einmal von „eklen Kunstrichtern“). Wissenschaftlich seriös verfahrend, hätte man hier also die alte Wendung im Text unbedingt belassen, aber in einem Kommentar ebenso unbedingt erläutern müssen. Natürlich könnte man einige der veralteten Wendungen unschwer durch jeweils moderne ersetzen (also etwa „der verzweifelte Wirt“ durch 'der verdammte Wirt' usw.) - damit wären aber Schönheiten und Eigenheiten der originalen Klassikersprache empfindlich gestört. Auf der Bühne könnte man das schon eher riskieren, dann müßte man aber darauf hinweisen, daß der Aufführungstext sprachlich modernisiert sei. Wie oben gesagt, besteht diese fatale Notwendigkeit bei neu gedruckten Texten keineswegs, die man von Punkt zu Punkt im Kommentar erläutern kann. Der groteske Versuch eines wohlmeinenden Schulmanns, in seinen für Lehrer und Schüler bestimmten modernisierten Textausgaben - zum Beispiel etwa in Schillers „Wilhelm Tell“ (hier werden sogar die klassischen Schiller'schen Verse durch die weitgehende Umsetzung in Prosa fast gänzlich zerstört!) oder in der Droste-Novelle „Die Judenbuche“ - heute alle angeblich unverständlichen Textstellen zu ersetzen, weil man Lehrenden und Lernenden scheinbar nicht mehr zumuten kann, sich selbst, etwa in Wörterbüchern, kundig zu machen. So liest sich die Droste-Formulierung, zur Zeit des „Aequinoktiums“ fühle „mancher Hektische die Schere an seinem Lebensfaden“ sachlich, sprachlich und stilistisch geradezu barbarisch verhunzt: In der Zeit „der nahen Tag- und Nachtgleiche“ fühle „mancher Tbc-Kranke“ seinen nahenden Tod. „Hektische Kranke“ leiden an Auszehrung, die Tbc-Krankheit wurde erst 40 Jahre nach Erscheinen der „Judenbuche“ definiert. Ehe man sich so an der Sprache unserer Dichter vergreift, sollte man den Schülern lieber eine (hoffentlich zutreffende) Inhaltsangabe bieten.
 
Insgesamt verlangen die Fragen nach einer umfassenden Bestandsaufnahme des deutschen Wortgebrauchs und dessen ständigem Wandel auch und gerade bei der Rezeption unserer klassischen Literatur nach Erklärungen, die die Germanistik noch zu leisten hat.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020