„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“

Von entstellten und fehlerhaften Zitaten

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“
 
Von entstellten und fehlerhaften Zitaten
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Der Zürcher Professor Emil Staiger, einer der bedeutendsten Germanisten der Nachkriegszeit, hat 1945 als erster und bislang wohl einziger Literaturwissenschaftler auf das Phänomen aufmerksam gemacht, daß sich Rezipienten und die Dichter selbst Zitate so sehr aneignen, daß sie unbewußt ihrem Stil und ihrem Verständnis entsprechen. Sigmund Freud hatte sich zuvor seitens der Psychologie diesem Thema genähert, indem er Wort- und Satzverdrehungen als Zeichen für ein unterbewußtes Verdrängen deutete, das jedem sprachlichen Irrtum zugrunde liege (die berühmten 'Freudschen Fehlleistungen'). Staiger hat bei seiner ergebnisreichen Recherche den fehlerhaften Umgang mit Namen, Titeln und Formulierungen ausgeklammert. Dieser Aspekt soll im Folgenden ebenfalls berücksichtigt werden.
 
In Schillers letztem vollendeten Drama „Wilhelm Tell“ (1804) versammeln sich die unterdrückten Eidgenossen zum sprichwörtlich gewordenen und früher von zahllosen Gymnasiasten auswendig gelernten Rütlischwur:
 
            „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
            In keiner Not uns trennen und Gefahr.“
 
Meist aber wurde und wird (bis heute auf Google), verstärkt wohl auch durch den Text der Nationalhymne („Einigkeit […] für das deutsche Vaterland“), in der Form Wir wollen sein ein einig Volk“ zitiert. Damit wird die Einigkeit, die Schiller heraufbeschwört („wir wollen“) als schon vollendet in einem geläufigen Adjektiv ausgesprochen. Sich ausdrücklich verbrüdernde „Brüder“ sind aber in der Idealvorstellung von Haus aus und eo ipso „einig“, so daß es sich bei dem entstellten Zitat um einen Pleonasmus handelt. Den hat Schiller nicht intendiert, denn er wollte das Volk der Eidgenossen als einzig in seiner Art vorstellen. Weniger gravierend, wenn auch vergleichbar, ist die den Versrhythmus zerstörende Zitierung der „Milch der frommen Denkungsart“. Tell redet jedoch in seinem Monolog den Landvogt Geßler tatsächlich mit den Versen an: „In gärend Drachenblut hast du / Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt.“  
 
Goethe läßt den Dichter Tasso in seinem gleichnamigen Drama die berühmten Worte sprechen „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide“, die in freier Rede fast immer in der Fassung „Gab mir ein Gott, zu sagen,  was ich leide“ begegnet. Diese Formulierung liege näher, sagt Staiger mit Recht; doch „wie ich leide“ sei schmerzlicher, „wie“ gebe die Art und den Grund des Leidens, „was“ nur seinen Inhalt an. Von Interesse ist, daß Goethe sich Jahrzehnte später in einem  Motto seiner „Trilogie der Leidenschaft“ falsch zitiert oder daß er sich nunmehr bewußt der allgemein entstellt wiedergegebenen Form des Zitates angeschlossen hat:
 
            Elegie
            Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt
            Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide“.
 
Sehr aussagekräftig für die Ursache falschen Zitierens einer poetischen Formulierung ist die Fehlleistung anderer Dichter. Eines der berühmtesten Gedichte der Weltliteratur, Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh“, endet mit der ergebenen Selbstanrede des Lyrischen Ich: „Warte nur, balde / Ruhest  du auch.“ Durch das unbetonte „auch“ schließt sich der Mensch als Letzter organisch und widerspruchslos der am Abend zur Ruhe kommenden Natur an. Er schreibt sich gegenüber den Baumwipfeln und den Vögeln keine Sonderrolle zu und erwartet seinen Schlaf sowie das Ende seines Lebens gelassen, ja geradezu hoffnungsvoll. Die oft anzutreffende falsche Wortstellung und die damit gegebene Änderung der Betonung „Ruhest auch du  erweckt ganz gegen den Sinn des Gedichts den Eindruck, daß dem Menschen, der von sich spricht, eine herausgehobene, einzigartige Bedeutung zukommt. Clemens Brentano, dessen Werk von Zitaten wimmelt, bedient sich einmal bei dem berühmten Lied des Harfners aus Goethes „Wilhelm Meister“:
 
            Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
            Wer nie die kummervollen Nächte
            Auf seinem Bette weinend saß.“
 
Daraus wurde im Märchen vom „Müller Radlauf“:
 
            „Wer nie sein Brot in Tränen aß,
            Wer nie die kummervollen Nächte
            Weinend auf seinem Bette saß.“ 
 
Goethes Harfner singt von einem Bekümmerten, der oft sein Brot „mit Tränen“ aß; daraus wird bei Brentano gleichsam ein Tränenregen („in Tränen“, in einem Meer von Tränen). Dem entspricht die überdeutliche Betonung des Wortes „weinend“, das am Beginn des Verses larmoyant und selbstmitleidig klingt, während der Harfner dieselbe Aussage in unaufgeregtem, gleichströmenden  Rhythmus schicksalergeben singt. Aus seiner eher leisen Klage ist eine laute Larmoyanz geworden.
 
Etwas anders steht es um 'unentschiedene' Lesarten, bei denen Bewußtsein im Spiel ist. Im „Faust“-Monolog stand in der Handschrift und im Erstdruck „Mein Lied ertönt der unbekannten Menge“. In einigen Folgeauflagen zu Goethes Lebzeiten hieß es dann (Druckfehler?) „Mein Leid ertönt der unbekannten Menge“. Goethe scheint diese „Lesart“ als apart empfunden zu haben, zumal sie Sinn macht, denn er hat sie nie korrigiert. Nach seinem Tod griffen die literarischen Testamentsvollstrecker sofort auf die Handschrift zurück, und seitdem ertönt in den meisten „Faust“-Ausgaben wieder „mein  Lied“.
 
Der siebenundzwanzigjährige Goethe versuchte  in einem Brief vom 17. Juli 1777 an die Gräfin zu Stolberg eine Art Resümee seines bisherigen Lebens zu geben und formulierte den Vierzeiler: 
 
            „Alles gaben Götter die unendlichen,
            Ihren Lieblingen ganz
            Alle Freuden die unendlichen
            alle Schmerzen die unendlichen ganz.“
 
Obwohl Goethe diese Verse in keine seiner Gedichtausgaben aufnahm, wurden sie sehr berühmt. Denn Friedrich Leopold zu Stolberg hatte den Vierzeiler 1780 aus dem Brief an seine jüngere Schwester im „Deutschen Museum“ publiziert. Hier und in der ersten Veröffentlichung des Briefwechsels im Jahr 1839 findet sich die Eingangszeile in entstellter, den Sinn teilweise umkehrender Form: „Alles geben die Götter, die unendlichen.“
 
Erst 1967 hat man ein Faksimile des Goethe-Briefs von 1777 genauer betrachtet und den 'Urtext' wieder hergestellt. Inzwischen aber war die Eingangszeile allenthalben in der abweichenden Form zitiert worden und findet sich bis heute als ein beliebtes Motto auf Todesanzeigen. Damit will man anzeigen, dass dem oder der Verstorbenen ein von den Göttern gesegnetes, in jeder Hinsicht erfülltes Dasein („alle Freuden […] alle Schmerzen“) beschieden war. Goethe meinte es gewiß anders: „Alles gaben“ heißt ja doch wohl, es war einst in der Antike so, als die Götter noch mit vollen Händen ihren Lieblingen gleichermaßen Freud und Leid austeilten, und es war in der eigenen Jugend so, als man sich ähnlich von göttlichen Gaben erfüllt sah – diese tiefsinnige Erkenntnis und ihr elegischer Unterton sind in dem eineinhalb Jahrhunderte lang in entstellter Form tradierten Zitat verwischt und genau genommen teilweise fast ins Gegenteil verkehrt worden.
 
Von anderem Kaliber sind durch Editoren bewußt vorgenommene Entstellungen, in denen höchst unphilologisch die eigene Meinung dem dichterischen Text vorgezogen ist. In einem der glühendsten Liebesgedichte des deutschen Minnesangs bietet Heinrich von Morungen Anfang des 13. Jahrhunderts das Wechselgespräch eines Liebespaars vor der Trennung im Morgengrauen. In der Schlußstrophe drückt die Geliebte mit einem Anflug von Koketterie ihr Erstaunen aus, dass er sich an ihr nicht satt sehen konnte:
 
            „daz er sô dicke sich  
            bî mir ersehen hât!
            Als er endahte mich.
            Sô wolt er sunder wât
            mich arme schouwen blôz.“
 
Sie wundert sich, daß ihn ihr Anblick „nie verdrôz“, seit er sie aufgedeckt hatte, so daß sie nackt vor ihm lag. Das mochten  prüde Germanisten ihren Lesern nicht zumuten und schon gar nicht den gymnasialen Obersekundaner(inne)n, die traditionell im Deutschunterricht mittelhochdeutsche Literatur traktierten. Also machte man durch eine kleine Konjektur von einem Buchstaben die Sache jugendfrei. Aus „mich arme“ wurde „mîn arme“ (meine Arme). Daß noch im Jahr 1983 ein wissenschaftlicher Kommentar die prüde Konjektur -  icht widerspruchsfrei! -  zu rechtfertigen suchte, ist denn doch erstaunlich:
 
„Es geht hier ja nicht darum, eine mögliche Prüderie der Schreiber rückgängig zu machen, sondern die genuine mittelalterliche Vorstellung zu finden […], daß besonders die nackten Arme als erotisierend galten. Was im übrigen nicht ausschließt, daß die Frau, wie das Lied voraussetzt, auch sonst völlig nackt ist.“
 
Es finden sich zahllose Belege dafür, wie gutmeinende Rezipienten einem Originaltext aus verschiedensten Gründen  'aufzuhelfen' versuchen, zum Beispiel, um ihn leichter sangbar zu machen, vor allem aber auch, um ihn modernen Sprachgewohnheiten anzupassen. Der Komponist Friedrich Silcher hat 1838 in der berühmtesten Vertonung der Heine'schen „Loreley“ (1826) den zweiten Vers umgeschrieben: Aus dem „Märchen aus alten Zeiten“ wurde ein „Märchen aus uralten Zeiten“ - und so wird denn der Gedichteingang überwiegend zitiert. 
 
In Buch- und Gedichttiteln finden sich immer wieder Abweichungen vom Originaltext. E.T.A. Hoffmanns berühmtes Kunstmärchen ist mit „Der goldne Topf“ überschrieben; viele Buchtitel machen daraus unnachdenklich einen „goldenen Topf“. Aus „Adelbert von Chamisso“ wird fast durchgängig „Adalbert“, aus dem Kleist'schen Titel vom „Zerbrochnen“ Krug, in dem im harten Aufeinanderprall der beiden letzten Silben das Leitmotiv der scheppernden Scherben hörbar ist, wird ein „zerbrochener“ Allerweltskrug. Aus Justinus Kerners harter Fügung „Der Wanderer in der Sägmühle“, die etwas von dem unbarmherzigen Tun der Holzsägen, die Sargbretter schneiden, erkennen läßt (im Gegensatz zur romantischen Erwartung an harmonisch klappernde Windmühlen, wird in der Regel eine alltäglich anzutreffende „Sägemühle“.
 
Besonders hart wird in dieser Hinsicht den allbekannten Grimm'schen Märchen zugesetzt. Gleich der Satzeingang des ersten Märchens „Der Froschkönig“ wird meist falsch zitiert: Statt der Grimm'schen Formulierung „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“, liest und hört man immer wieder „In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat.“ Nicht weniger als drei Fehler finden sich in der Angabe: Im Schneewittchen-Märchen der Gebrüder Grimm wohne das Mädchen „Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen“. Das Märchen steht jedoch in der Sammlung der „Brüder“ Grimm, es heißt „Sneewittchen“, und die sieben Berge sind aus Ludwig Bechsteins „Deutschem Märchenbuch“ von 1845 in den deutschen Zitatenschatz eingewandert (bei Grimm liest man dreimal ausdrücklich „Sneewittchen über den Bergen“, bei Bechstein „Aber Schneeweißchen über den sieben Bergen“). Der speisenzaubernde Tisch heißt schon in der Grimm'schen Überschrift „Tischchen deck dich“; er wird allgemein ungenau) als „Tischlein deck dich“ (wohl ebenfalls nach Bechstein) zitiert.
 
Falsche Betonungen sind oft auf mangelhafte Sachkenntnis zurückzuführen. Als Ansage zu Richard Wagners Tetralogie ist zuweilen zu hören: „Der Ring der Nibelúngen“ - dabei geht es aber um den Ring des einen Nibelungenzwergs, und der hat nichts mit Lungen, wohl aber etymologisch mit den „Nebel-Leuten“ zu tun.
 
Hölderlin betont, dem Platonischen Dialog „Symposion“ folgend, den Poetischen Namen seiner Geliebten Susette Gontard auf der dritten Silbe: „Διοτίμα“ (Diotíma)  - diese Form garantiert allein die metrische Richtigkeit; im Volksmund vernimmt man aber immer wieder „Diótima“ (nicht nur in Schwaben, wo vor Jahren ein Führer durch den Tübinger Hölderlin-Turm die Besucher mit der lakonischen Auskunft beschied: „Dann is die Diótima kumme, un da is er narret worde“).
 

© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020