Schwaneneierbirne und Schmutzbolch

Sofia Blind – „Die alten Obstsorten“

von Sabine Kaufmann

Titel: Portugiesische Birnenquitte, Poiteau/Turpin, 1835
Schwaneneierbirne und Schmutzbolch
 
Früchte mit Vergangenheit
 
Wenn Sie heute über einen Wochenmarkt schlendern oder im Supermarkt an den Ausstellungsflächen für Obst vorüber gehen, werden Sie feststellen, daß quasi das ganz Jahr über neben Bananen und Zitrusfrüchten eine geradezu üppige Fülle exotischer Früchte angeboten wird, von der Passionsfrucht und der Karambole über Ananas, Kiwano und Mango bis zu Papaya und Drachenfrucht – um nur einige beim Namen zu nennen. Bei saisonalen regionalen bzw. einheimischen Früchten aus lokalem Anbau wie Äpfeln, Birnen, Zwetschgen, Kirschen und Beerenfrüchten jedoch herrscht ein beklagenswerter Mangel, zumal heute in riesigen Mengen Kirschen aus der Türkei, Äpfel in wenigen beherrschenden Sorten aus Südtirol und Beeren ebenso wie Steinobst aus spanischen und holländischen Treibhäusern importiert werden. Die Früchte sind oft genug charakterlos, in Form und Größe genormt und gelackt und leider auch ohne wirklichen Geschmack. Wer je eine spanische Treibhaus-Erdbeere mit einer deutschen Gartenerdbeere verglichen hat oder im Sommer naschend über eine schwäbische Streuobstwiese gewandert ist, weiß, was ich meine.
„Aber sehr viele (jetzt) hiesige Obstsorten sind doch vor Jahrhunderten erst aus dem nahen und fernen Orient hierher gebracht und kultiviert worden“ kann mir nun ein kluger Mensch entgegenhalten. Das ist sicher wahr, aber dann haben diese durch ihre Kultivierung hier ihre markanten Eigenheiten und ihre Vielfalt entwickelt. Die gesichtslose Import-Massenproduktion heute hat mit den „alten“ Früchten kaum noch zu tun. Und so wird häufig das Obst aus dem Feld geschlagen, mit dem die älteren Generationen hier noch aufgewachsen und gesund ernährt worden sind. Das ist eine wahrer Jammer und tatsächlich eine Kulturschande.
 
Die Sachbuch-Autorin Sofia Blind erinnert in ihrem jüngsten Buch „Die alten Obstsorten“ mit dem Untertitel Von Ananasrenette bis Zitronenbirne an die Sorten- und Geschmacks-Vielfalt, die einst herrschte. Über fünfzig heimische alte Obstsorten werden in diesem Band anhand von historischen Illustrationen, überwiegend aus dem 19. und 20. Jahrhundert, unterhaltsam und ausführlich, mehr als hundert weitere kurz vorgestellt: Äpfel und Birnen, Kirschen und Pflaumen, Aprikosen und Pfirsiche, Beeren und Nüsse – darunter Klassiker wie Gravensteiner oder Schattenmorelle, Raritäten wie der Weiße Winterkalvill und außergewöhnliche Arten wie Maulbeere, Quitte oder Mispel. „Seidenhemdchen“ und „Schweizerhose“, „Forellenbirne“ und „Weinapfel“ – die Namen alter Obstsorten sind ebenso vielfältig und ausgefallen wie ihr Aussehen und ihr Geschmack. Tips zu Anbau und Sortenauswahl sowie Rezepte regionaler Spezialitäten ergänzen die Sortenporträts. Eine gut verständliche, übersichtliche Einführung erzählt von der wechselhaften Geschichte der alten Sorten, derWiederentdeckung ihrer einmaligen Aromen und der immensen ökologischen Bedeutung, die ihnen heute zukommt.
Im Vorwort, das ich hier ebenfalls gerne zitiere schreibt Sofia Blind:
„Hasenkopf und Hühnerherz. Frauenschenkel und Venusbrust. Schmalprinz und Breitarsch. Die Vielfalt unserer alten Obstsorten ist überwältigend - sage und schreibe 1424 verschiedene Äpfel, 1016 Birnen, 324 Kirschen, 251 Pflaumen und 194 Pfirsiche verzeichnet die Obstsortendatenbank, die der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) aus historischen Quellen zusammengestellt hat.
Was ist aus dieser atemberaubenden Fülle an Sorten geworden?
Viele sind verschwunden: Die Schwaneneierbirne ist ebenso verschollen wie der Schmutzbolch - ein Apfel, dem wahrscheinlich sein Name zum Verhängnis wurde. Andere Obstsorten haben es zu Weltstars gebracht, wie die Williams Christbirne oder der Gravensteiner Apfel. Manche genießen dank lokaler Rettungsinitiativen inzwischen wieder regionale Bekanntheit, wie der Finkenwerder Herbstprinz in Norddeutschland oder die Pöllauer Hirschbirne in Österreich. Und Hunderte weiterer Sortenschätze sind nach wie vor in Baumschulen und auf Streuobstwiesen zu finden.“
 

Roter Bellefleur, Poiteau/Turpin, 1835

Ein empfehlenswertes, höchst informatives, außerordentlich kurzweiliges Buch, in dem man sich regelrecht festlesen kann, und das ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, sehr ans Herz lege.
 
Sofia Blind – „Die alten Obstsorten“
Von Ananasrenette bis Zitronenbirne. Geschichten, Rezepte und Anbautipps
© 2020 Dumont Buchverlag, 192 Seiten, fester Einband, 55 farbige Abbildungen, Lesebändchen, Quellennachweis, Bildnachweis, Tips und Adressen, Sortenregister  -  ISBN 978-3-8321-9988-3
25,- €
 
Weitere Informationen: www.dumont-buchverlag.de