Winterdepression und Hoffnung auf den Frühling vor 800 Jahren:

Walther von der Vogelweide

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Winterdepression und Hoffnung auf den Frühling
vor 800 Jahren:

Walther von der Vogelweide
 
Von Heinz Rölleke
 
Walther lebte von etwa 1170 bis 1230; er war ein Fahrender Sänger und verdiente sein Brot an den verschiedensten Fürstenhöfen in Österreich und Deutschland, an denen er seine von ihm selbst komponierten Lieder vortrug. Er war zu seiner Zeit der berühmteste unter seinen Zunftgenossen und gilt heute gänzlich unbestritten als größter Lyriker der deutschsprachigen Literatur des gesamten Mittelalters.
 
Wie all seine Zunftgenossen klagt er immer erneut über die Unbilden des Winters – und das so eindringlich, daß man geneigt ist anzunehmen, daß in die vielen toposhaften Bilder auch eigenes schmerzliches Erleben Eingang gefunden hat. Das Klagen endet erst mit seinem wohl letzten Lied „Ich hân mîn lehen“, in dem er den Kaiser preist, der endlich durch eine Belehnung in Würzburg dieser Not ein Ende gemacht hätte.
 
Uns hât der winter geschât über al:                 Uns hat der Winter allenthalben geschadet: 
heide unde walt die sint beide nû val,              Heide wie Wald sind nun beide entlaubt,
dâ manic stimme vil suoze inne hal.                Durch die sonst viele Stimmen süß tönten.
saeh ich die megde an der strâze den bal       Könnte ich Mädchen an der Straße den Ball
werfen: sô kaeme uns der vogele schal.         werfen sehen, so käme uns der Gesang der                                                                                                             Vögel wieder.
 
Möhte ich verslâfen des winters zît!                Könnte ich doch den Winter über schlafen!
wache ich die wîle, sô hân ich sîn nît,             Derweil wachend, erdulde ich seinen Groll,
daz sîn gewalt ist sô breit und sô wît.             Denn seine Macht macht sich überall breit.
weiz got er lât ouch dem meien den strît!       Gott weiß es: Er muß auch heuer dem Mai
                                                                        im Kampf unterliegen.          
sô lise ich bluomen dâ rîfe nû lît.                    So pflücke ich Blumen, wo jetzt Reif liegt.
 
Das kleine, scheinbar so anspruchslose Lied im - für mittelhochdeutsche Lyrik allerdings eher seltenen - viertaktigem daktylischen Rhythmus zeigt den Dichter auf einem Gipfelpunkt seines formalen Könnens: Úns hat der wínter geschát über ál. Das Reimschema der zweimal fünf Verse, deren Kadenzen jeweils durchgängig auf nur einen Vokal gereimt sind („at“ bzw. „ît“), scheinen etwas vom leicht variierenden Thema beider Strophen in den ersten vier Versen anzuzeigen: Unruhe und Klagen wegen der Unbilden, die der Winter mit sich bringt, im extrem kurz artikulierten „al“ eine gewisse Gehetztheit, eine bleierne Resignation im langgezogenen „ît“. Das führt zur Beobachtung, daß die Strophen inhaltlich genau parallel gebaut sind: vier Zeilen Naturbilder mit der Reaktion des Lyrischen Ich, zwei Zeilen Erwartung des noch fernen Frühlings. Das heißt: Die Reimvokale halten sich durch und zeigen damit an, daß die Hoffnungen aus dem währenden Winter heraus gesprochen sind.
 
Früher sah man in solchen Gedichten realistisch gestaltete Naturbilder. Im berühmten Lied Walthers „Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was […] vor dem walde in einem tal“ glaubte man in der an sich wenig originellen Schilderung des Ortes der Liebesbegegnung einen ganz realistischen Preis des Dichters diverser Naturschönheiten als solcher deuten zu können: Linde, Heide (der unbebaute Raum vor einem Wald), wunderschöne Rosen, saftiges Grün des Grases, und das Lied der (nicht einer!) Nachtigall seien die das Liebesglück spiegelnden Naturphänomene.
 
Erst in jüngerer Zeit hat man erkannt, daß die Naturbilder hier keineswegs um ihrer selbst willen erscheinen, sondern daß es sich um Versatzstücke handelt, Topoi, die zum Teil seit der Antike konstant blieben. Solche Requisiten waren den Hörern vertraut, und der Dichter führt mit ihnen die Hörererwartung genau in die von ihm intendierte Richtung. Die Rezipienten mittelalterlicher Kunst wollen (vergleichbar den Gewohnheiten der Kinder im Umgang mit Märchen zu allen Zeiten) stets Gewohntes hören und sehen. Originalität war nicht das Ziel der Kunst und nicht nur bei konkurrierenden Künstlern, sondern vor allem auch beim Publikum verpönt (so griff zum Beispiel Gottfried von Straßburg in seiner „Tristan“-Dichtung den mit ihm zeitgleich dichtenden Wolfram von Eschenbach öffentlich scharf an, weil dieser in seinem „Parzival“ als Wilderer im Feld der Dichtung den Hörern „niuwe maere“ auftische): Bei der Rezeption neuer Kunst wollte man immer wieder den altvertrauten Sujets begegnen. Wie die bekannten Inhalte dieser Kunstwerke dann jeweils aktuell in neuer Beleuchtung geboten wurde, das erregte Spannung und das eigentliche Interesse: Das „Wie“ nicht das „Was“ des Kunstwerks war entscheidend – das später von Schiller kritisierte „stoffartige Interesse“ stand bei den Rezipienten nicht im Vordergrund.
 
So begegnen im hier vorgestellten Gedicht keine Landschaftsmalereien, sondern Symbole des Erstarrens und des Auftauens im

Walther-Statue auf dem Waltherplatz in Bozen
Foto ©
Frank Becker
Ablauf eines Jahres wie des menschlichen Lebens. Will man dem Kunstwerk im Sinne des Künstlers und seines zeitgenössischen Publikums gerecht werden, muß man sich bemühen, die Intentionen einiger Wendungen in diesem Liedtext so zu verstehen, wie sie seinerzeit gemeint und aufgefaßt wurden.
 
Mit dem ersten (stark betonten) Wort „uns“ bezieht das hier sprechende Lyrische Ich ohne Weiteres und wie selbstverständlich jeden Hörer in seine Erlebniswelt ein: Begegnungen mit Kunst zielten früher immer auf eine Gemeinschaft des ausübenden Künstlers (der oft, wie eben besonders auch Walther, seine Werke einer Gruppe von Hörern selbst vortrug) mit seinem Publikum ab (so beginnt ja auch das berühmte „Nibelungenlied“ ganz ähnlich: „Uns ist in alten maeren […].“ Ein individueller Kunstgenuß war für unsere Vorfahren noch lange Zeit unvorstellbar.
 
Sodann werden die Folgen des verhaßten Winters ausgerechnet an den liebgewonnenen schönen Örtern (loci amoeni) verdeutlicht, die in sommerlichen Zeiten toposhaft bei Liebesbegegnungen im Freien bevorzugt wurden: der Wald das ihm vorgelagerte Grasland mit Büschen und Mulden. Die Vogelstimmen sind verstummt (ein Bild, daß einem Dichter naheliegen mußte, der sich „von der Vogelweide“ nannte und den Gottfried von Straßburg metaphorisch als den Fahnenträger aller zeitgenössischen Lyriker (= Singvögel) rühmte: „ir meisterinne kan ez wol, diu von der Vogelweide“). Damit ist nun auch klar, daß nicht nur die Vögel, sondern auch die Minnesänger in der Winterszeit zum Schweigen verurteilt sind. Die Hoffnung auf den wiederkehrenden Sommer wird im Bild einer der im Mittealter äußerst seltenen Spielbeschreibungen festgemacht: Im Frühling spielen Kinder wieder auf der Straße, und die Mädchen werfen sich den Ball von der einen auf die andere Straßenseite zu – und hier bringt Walther sehr raffiniert das Kunstmittel des Enjambements ein: Wie der eine Vers nicht abgeschlossen ist, sondern plötzlich in den nächsten übergeht, so fliegt hier der Ball von der einen Hand geworfen in die Hand der Mitspielerin. Die kurze unerwartete Pause am Versende nach dem Wort „Ball“ macht den Abwurf und den kurzen Höhenflug des Spielgeräts geradezu hörbar, ehe die Verse danach wie auch zuvor im erwarteten gleichmäßigem Rhythmus weiterfließen.
 
Die zweite Strophe wünscht utopisch, man könne die garstige Winterszeit wie so manches Tier verschlafen. Diese Jahreszeit setzte gerade den unbehausten Fahrenden Sängern immer wieder grausam zu; der Wunsch des Minnesängers ist nur zu verständlich. Doch nun vertraut man allmählich wieder auf Gottes allwissende und allmächtige Lenkung und auf die Erinnerung an frühere, Jahr für Jahr neu gemachte Erfahrungen: Es muß doch wieder Frühling werden. Der Frühling wird auch heuer einmal wieder im Streit den Winter besiegen - und wenn es auch erst im Mai geschieht; das ist auch eine deutliche Anspielung auf die seinerzeit im Schwange gehenden Spiele eines allegorischen Zweikampfes zwischen einem grauen alten und einem frischen jungen Kämpfer, bei denen die Zuschauer wiederum wußten, daß die handfeste Auseinandersetzung wie immer enden würde, dem man aber trotzdem mit neuem Kunstgenuß zusah.
 
Vielschichtig anspielungsreich ist die in der Schlußzeile formulierte Zukunftserwartung. Zunächst ist sie so zu verstehen, daß man demnächst dort, wo jetzt noch der Winterreif alles scheinbar für immer bedeckt, wieder Blumen pflücken kann. Das Blumenpflücken oder -brechen ist aber bis hin zu Goethes „Heideröslein“ und darüber hinaus ein den Hörern vertrautes Bild für ein handfestes Stelldichein im Freien. Letztlich ist im Mittelhochdeutschen das 'Blumenlesen' ein Bild für lyrisches Dichten: Verse werden wie Blumen gesammelt und schön geordnet im Gedicht dargeboten. Dieses Dichten und die ihm zu Grunde liegende entsprechende Stimmung des Minnesängers sind mit der sich demnächst wandelnden Natur völlig identisch. Die besondere Raffinesse des Schlußbildes und seine letztlich tröstliche Aussage bestehen aber darin, daß mit der Vollendung des vorliegenden Gedichts gerade das schon vorwegnehmend geleistet worden ist.
 
Im Winter ist der Sommer bereits in verschiedenen Formen und Erscheinungen anwesend. Jede Hoffnung auf sein baldiges Eintreffen ist daher berechtigt. Was in der aparten Führung der Reimvokale schon hörbar oder ahnbar wurde, findet mit dieser sicheren Vorhersage seinen Abschluß: Am Ende jeder dunklen Zeit, in der man die Hoffnung nie aufgeben darf, steht das Licht eines neuen Natur- und Lebensgefühls – auch in der Epoche der Coronapandemie anno 2020/21.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021