Ein künftiges Standardwerk

Karl Bellenberg – „Else Lasker-Schüler, ihre Lyrik und ihre Komponisten“

von Lutz-Werner Hesse

Ein künftiges Standardwerk

Die Vertonungen von Else Lasker-Schülers Lyrik
 
Es gibt Publikationen, die den Leser oder die Leserin ob der versammelten Fülle und Seriosität der Informationen sprachlos machen. Karl Bellenbergs nun veröffentlichte Dissertation über Else Lasker-Schüler und Komponisten, die ihre Lyrik vertonten, gehört dazu. Die berühmte Elberfelder (heute Wuppertal) Dichterin lebte von 1869 bis 1945 und wurde aus Anlaß ihres 150. Geburtstags 2019 in Wuppertal ein Jahr lang mit den unterschiedlichsten Veranstaltungen gefeiert. Natürlich gehörten auch Konzerte dazu, denn Lasker-Schüler gehört zu den am meisten vertonten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts und faszinierte viele Komponisten unterschiedlichster Stilrichtungen und Prominenz, angefangen bei Paul Hindemith über Friedrich Hollaender und Wolfgang Rihm bis zur Black-Metal-Gruppe „A Winter Lost“. Ca. 1800 Kompositionen von mehr als 400 Komponisten zwischen 1904 bis 2018 befinden sich im Archiv Bellenbergs und die Zahl wächst weiter an.
 
Es ist durchaus ungewöhnlich, daß sich ein Autor konkret musikalisch-kompositorisch-musikwissenschaftlich und zugleich literaturwissenschaftlich an ein solches Thema heranwagt. Andererseits ist es ob der Thematik des Buches absolut zielführend. Denn beide Bereiche müssen kompetent vertreten sein, will man Textvertonungen angemessen würdigen. Allerdings geht die Dissertation weit über solch einschränkende Betrachtungen hinaus und beleuchtet unterschiedlichste Aspekte des Themas. Das soll im Folgenden beschrieben werden.
 
Bellenberg gliedert sein Buch in 5 Haupteile:
I         Das lyrische Werk Else Lasker-Schülers                                                                                                       
II        Das Kompositionen-Corpus                                                                                                                             
III       Komponisten und ihre Werke                                                                                                                       
IV       Bibliographie der Else-Lasker-Schüler-Vertonungen                                                                             
V        Anhänge
 
Als „Kern“ seiner Arbeit betrachtet der Autor selbst den Teil IV. In ihm sind die Ergebnisse der jahrelangen Forschungen aufgegangen, die das Ergebnis einer frühen Lasker-Schüler-Begeisterung Bellenbergs waren. Teil II bringt eine wissenschaftliche Erörterung des Kompositionen-Corpus aus Sicht der Datenerhebung, der Statistik, der Genres und der Rezeption des literarischen Werkes.  Teil III schließlich behandelt die Analyse einzelner Werke verschiedener Komponisten. Daß angesichts der immensen Zahl an Vertonungen hier nur ein exemplarisches Arbeiten möglich war, liegt auf der Hand. Als Kriterien für die Auswahl beschreibt Bellenberg: „Es war der Wunsch leitend, Kompositionen genauer zu besprechen, die in ihrer Art auffielen, sei es in der thematischen und musikalischen Anlage des Werkes, etwa der narrativen Form einer musikalischen Lebensgeschichte Else Lasker-Schülers (…), seien es besondere musikalische Einfälle, thematische Arbeiten, gelungene Bilder in einer Komposition oder philosophische Gedanken… .“ Ein weiteres Kriterium war die Auswahl von Vertonungen, die weitgehend unbekannt sind. Damit ist einem Zweck gedient, den Bellenberg ausdrücklich für sein Buch sieht:
 
Es soll nicht nur an den interessierten Musik- und Literaturwissenschaftler, sondern vielmehr auch dezidiert an Sängerinnen und Sänger bzw. Gesangspädagoginnen und -pädagogen, die neue Literatur suchen. Teil V schließlich bringt in den Anhängen u.a. ein Verzeichnis der bibliographisch erfaßten Vertonungen, so daß diese sich nicht nur über das Komponisten-/ Werkverzeichnis,  sondern auch über die Gedichte erschließen lassen.
 
Die musikalischen Analysen Bellenbergs erweisen sich durchweg als tiefgehend und fundiert. Naturgemäß sind die Ergebnisse oft da besonders interessant, wo Vertonungen des gleichen Gedichtes besprochen werden. Zu sehen, wie unterschiedlich Komponisten an denselben Text herangehen, ist oft faszinierend. Bellenberg zeigt das z.B. akribisch an 15 Vertonungen des Gedichts „Mein Volk“. (Sprach-) Rhythmus, Dynamik und Melodieverläufe werden anschaulich so dargestellt, daß sie unmittelbar nachvollziehbar sind. Das liegt nicht zuletzt an den sehr gut gesetzten Notenbeispielen in der Publikation (sofern sie nicht Kopien der Originaldrucke sind).
 
Viele der Werke sind wirklich als „Entdeckungen“ zu sehen und sollten unbedingt ins Repertoire von Sängerinnen und Sängern wandern. Dazu gehören z.B. die beiden Vertonungen von Georg Lewin (alias Herwarth Walden), dem 2. Ehemann der Dichterin. Diese beiden Vertonungen aus dem Jahr sind wohl die ersten überhaupt und stammen aus dem zweiten Ehejahr. Beide Lieder zeigen einen sehr eigenwilligen Umgang mit der Tonalität, den man negativ gesehen als „unsystematisch“, positiv gesehen als „phantasiereich“ bezeichnen könnte. Tatsächlich hatte Lewin eine zumindest in Teilen professionelle Ausbildung in Klavier und Komposition. Jedenfalls gehen die ungewöhnlichen harmonischen Wechsel erkennbar auf die dichterische Vorlage ein und sind damit echte „Vertonungen“ in einem partiell spätromantisch-expressionistischen Stil.
 
Eine wirkliche Entdeckung ist auch Paul Hindemiths Vertonung von „Weltende“ aus dem Jahr 1917. Der Komponist wandelt hier noch auf den klanglich-opulenten Wegen der Spätromantik um 1900. Bisweilen fühlt man sich an Richard Strauss oder Max Reger erinnert. Aber das ist bedeutungslos in Anbetracht der Tatsache, daß die Musik schlicht zutiefst beeindruckend ist und den Geist des Gedichtes sehr überzeugend spiegelt bzw. vertieft.
 
Hochinteressant sind die Ausführungen zu den „Themenfeldern der Lyrik“, gerade auch in Verbindungen, die man zu den Corpora anderer Dichter herstellen kann. Sie machen deutlich, was das besondere an der Lyrik der Dichterin ist und warum offenbar so viele Komponisten von ihrer Lyrik angezogen wurden und es bis heute werden. Und die Beziehungspunkte zu Else Lasker-Schüler sind keine geringeren als Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Gottfried Benn und Georg Trakl. Sie machen zugleich deutlich, auf welchem Niveau die Werke der Lyrikerin angesiedelt sind.
 
Das großformatige Buch hat zweifelsfrei den Charakter eines Kompendiums und ist mit Sicherheit das Standardwerk zu dem Thema auf absehbare Zeit. Man wird es nicht in einem Zuge lesen (obwohl es spannend genug wäre), sondern, nachdem man Grundlegendes zu Anfang gelesen hat, zur Hand nehmen, wenn einzelne Aspekte in den Fokus des Interesses treten, z.B. eben dann, wenn man sich informieren will, welche Vertonungen es denn überhaupt gibt.

 
Karl Bellenberg – „Else Lasker-Schüler, ihre Lyrik und ihre Komponisten“
Dissertation an der Universität zu Köln, zugelassen im Februar 2019
© 2019 Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Olaf Gaudig und Peter Veit GbR (wvb), Berlin, 556 Seiten, gebunden -  ISBN: 978-3-96138-132-6
89,- €

Weitere Informationen:  http://www.bellenberg.de/  -  www.wvberlin.com