Über das Menschsein in Corona-Zeiten

von Nicola Förg

Nicola Förg - Foto © Florian Deventer

Über das Menschsein in Corona-Zeiten
 
Von Nicola Förg
 
2020 war ein Jahr, das ohne Winterschnee begann, dann kamen die Stürme. Unsere Bäume knickten um wie Streichhölzchen, es schlug ein kalter Blitz in eine 30-Meter-Fichte an unserer Grundstücksgrenze. Gewaltige Holzscheite flogen meterweit - noch nie war etwas lauter hier in der Idylle, in der wir leben. Es sind oft nur Sekunden, die alles verändern. Doch dann kam Corona, und wir spürten alle, wie fragil jeder Einzelne ist und mehr noch: wie verletzlich diese ganze vernetzte Welt ist! 
     Ich will die Maßnahmen zur Eindämmung genauso wenig bewerten wie die mediale Berichterstattung. Mich erschütterte sehr schnell, wie leicht man sich von den Menschen abwendete, wie schnell vom Menschsein. Ich spürte, wie wichtig es ist, sich analog mit ein paar guten Freunden zusammenzusetzen und zu philosophieren über eben diese Welt. Menschen sind Emotion, und das Telefon und die Videokonferenz ersetzen die echte Nähe nie!
     Und dann riegelten sie ab! Ich stamme aus Oberstaufen, wir standen immer mit einem Bein in Österreich und der Schweiz, und die Grenzen waren verrammelt wie in Kriegszeiten. Nun bin ich so alt, daß ich mich noch gut erinnere, wie es war, in stundenlangen Grenzstaus zu stehen. Ich kann das Gefühl bis heute abrufen, wenn man gehofft hatte, daß der Wein oder der Kaffee, der geschmuggelt war, eben nicht entdeckt wurde. Diese geschlossenen Grenzen waren beklemmend, mich traf das tief in der Seele, das ist doch meine Heimat! Im Sommer 1989 war ich mit Freunden in Sopron. Und es war ein Zufall, daß zu dieser Zeit das so genannte Paneuropäische Picknick stattfand. Wir hörten davon und waren fassungslos. Sie hatten wirklich am Nachmittag des 19. August 1989 den Stacheldraht geöffnet! Wir trafen gegen siebzehn Uhr dort ein, da waren bestimmt schon zweihundert DDR-Bürger nach Österreich gelaufen. Ein Freund von mir unterhielt sich mit einem der ungarischen Grenzsoldaten, die von ihren Vorgesetzten die Weisung erhalten hatten, einfach wegzusehen. Ich war völlig überwältigt, ich hab geheult, weil das in der Welt, die wir alle kannten, in der wir groß geworden waren, einfach zu unglaublich war. Umso mehr hoffe ich, daß wir angesichts des Virus, das uns weiter beschäftigen wird, nicht in egoistische Kleinstaaterei verfallen. Wir müssen die Freiheit eines vereinten Europas schützen! 
     Wie europäisch ich fühle, ist mir zweimal aufgefallen, zum ersten Mal, als ich länger in Australien war, nach dem Abi, ich war jung und fühlte mich schlau und groß und kosmopolitisch. Aber nach kurzer Zeit machte sich das Gefühl breit, ich müsse unbedingt über italienisches Kopfsteinpflaster laufen und dort die Geräusche, die Gerüche einsaugen. In Down Under fährst du in einer Kleinstadt los, fährst sechshundert Kilometer auf staubigen Pisten und landest in einer weiteren gesichtslosen Stadt, die genauso aussieht wie die vorige – trotz der Entfernung dazwischen! Es hat mich damals bis ins Mark getroffen, daß ich so europäisch (spießig?) sozialisiert bin. Die Sperrung der Grenzen im Frühjahr 2020 allerdings hat mich noch mehr getroffen. Ich war eingesperrt, dabei bin ich doch Bewohnerin des Alpenraums, der weit über Deutschland hinausgeht. Das ist meine Herzensheimat, mein Lebensraum! 
     Zum Eingesperrtsein gehörte auch, daß alle geplanten Lesungen abgesagt waren, gleichzeitig kamen so einige Anfragen vom Fernsehen, wie ich mit dem verordneten Daheimbleiben zurechtkäme. Eine für mich irritierende Frage, denn ich fand es immer schon merkwürdig, daß alles Schöne am Wochenende und im Urlaub stattfinden soll. Ich wollte immer so leben, daß jeder Tag schöne Momente hat, daß es jeden Tag Sekunden und Minuten gibt, die der Seele gut tun. Einige meiner Freunde waren ganz glücklich, daß ihre vielen Business-Trips entfielen, ich empfand die Zeit als lähmend. Als kreativer Mensch geht es ohne Input nicht. Wo kein Input, da kein Output. Die Balance zwischen Anspannung und Entspannung macht das Leben aus. 
     Zugleich wurde das Thema des Buches ungleich aktueller. Weil das Thema Wohnen, das ureigene Biotop, in schwierigen Zeiten umso wichtiger ist. Wohnen ist Emotion, ist Persönlichkeit. Alte Häuser können sprechen, sie haben die Aura ihrer Vorbesitzer aufgesogen und führen ein Eigenleben. Alte Fensterrahmen blättern ab, alte Häuser sind auch verwundbar. Ein Niedrigenergiehaus hingegen bleibt clean, effektiv und völlig charmelos. Wo Fenster hermetisch abriegeln, wo kein Lüftchen nach draußen dringt, ist kein Austausch. 
Auch schlechte Luft bekam eine ganz neue Dimension. Überall dort, wo Menschen dicht aufeinander hocken, am schlimmsten in geschlossenen, wenig belüfteten Räumen, kam es zu Massenausbrüchen. Bei den chinesischen Textilarbeitern, in Flüchtlingsheimen, in all jenen elenden Unterkünften der Menschen, die bei uns die Jobs machen, für die sich der Mitteleuropäer zu fein ist. Erntehelfer und all die namenlosen Männer in den Schlachthöfen, wo erbärmlich gehaltene und geschundene Tiere zu dem werden, was der Deutsche an der SB-Theke zu Billigstpreisen kauft und später vom Grill frißt! Mariniert und überwürzt. Nun ist ein Schlaglicht auf diese Zustände gefallen, und hoffentlich bekommen die Arbeiter bessere Unterkünfte. Aber die kosten, und das Fleisch müßte dann noch billiger produziert werden, die Tiere noch unwürdiger leben. Eine gnadenlose Abwärtsspirale. Wieso gibt eines der reichsten Länder der Welt am wenigsten für wertige Lebensmittel aus? Warum machen wir uns zum Schweinefleisch-Billigproduzenten für die ganze Welt? Krisen legen Finger in Wunden, sie decken Schwachstellen auf – aber wird sich dauerhaft etwas ändern? Der Mensch vergißt schnell … 
 
© Nicola Förg

Anmerkung der Redaktion: Heute lesen Sie auf unseren Literaturseiten die Besprechung von Nicola Förgs aktuellem Roman „Böse Häuser“. Der Essay stammt aus dem Nachwort zu diesem empfehlenswerten Buch und ist hier in vollem Wortlaut wiedergegeben.