Jeder ein Mensch

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch

von Johannes Vesper

Jeder ein Mensch
 
Daß alle Menschen gleich geschaffen, mit gleichen Rechten ausgestattet sind, daß Leben, Freiheit und das Streben nach Glück dazu gehören, formulierten die 13 amerikanischen Kolonien in ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1776 und hielten das für selbstverständlich. Von den Delegierten, die elf Jahre später die amerikanische Verfassung berieten verfügte die Hälfte über eigene Sklaven und verkaufte gelegentlich einen, „um sich ein Buch kaufen zu können“. Ca. 700.000 Sklaven gab es damals in den Vereinigten Staaten. George Washington trug eine Zahnprothese aus Elfenbein mit 9 Zähnen, die seinen Sklaven dafür gezogen worden waren. Spätestens als Lyndon B. Johnson 1965 endlich, also 189 Jahre später, den „Voting Rights Act“ unterschrieb, womit den Schwarzen nach nomineller Abschaffung der Sklaverei 100 Jahre zuvor das volle Wahlrecht einräumte, wurde klar, wie utopisch die gut gemeinten Vorstellungen von 1776 waren und nicht der Realität sondern Wunschdenken entsprachen. In Europa mündete das Engagement des Marquis de Lafayette als mitkämpfender Offizier im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in die französischen Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“. Sie führten zur französischen Revolution und zwei Jahre später zu irrationalem Morden bzw. rationalisiertem, maschinenmäßigem Töten mit der Guillotine. Die Erklärung der Menschenrechte blieb auch hier Utopie und Hoffnung auf eine bessere Welt. Sehr lesenswert ist diese kurze Geschichte der Menschenrechte.
 
Und heute? Was denken wir dazu? Nach der Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1950 gilt erst seit 2009 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, über deren Bedeutung sich nur wenige klar sind. Die Vorgaben der Charta können vor Europäischen Gerichten gegenüber Staaten, die diese systematisch verletzen, nicht eingeklagt werden. Reichen solche Vorgaben heute? Das fragt und diskutiert Schirach in diesem schmalen Bändchen (32 Seiten). Was bedeuten Internet, die sogenannten Sozialen Medien, Globalisierung, Algorithmen in der künstlichen Intelligenz und Klimawandel, also die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte für die allgemeinen Menschenrechte? Sie seien dadurch erheblich gefährdet, schreibt er, und schlägt wegen dieser Gefahren in Ergänzung zu denen der Erklärung von 1776, die ihre Wirkung nur mehr oder weniger entfalteten, folgende sechs neue zeitgemäße Grundrechte vor, nämlich: das Recht auf eine gesunde und geschützte Umwelt, auf digitale Selbstbestimmung und Transparenz der Algorithmen, die bei künstlicher Intelligenz Anwendung finden, das Recht auf Wahrheit der Äußerungen von Amtsträgern, auf die Wahrung der universellen Menschenrechte bei jedem Angebot von Waren und Dienstleistungen überall und vor allem auch auf die Einklagbarkeit dieser Charta vor Europäischen Gerichten.
Der Text erinnert in seiner Kürze und Authentizität, in seiner Wucht an die Streitschrift von Stéphane Hessels – „Empört Euch!" von 2011. Und um die Frage, wie wir auf der Welt miteinander umgehen, ging es auch schon Axel Hacke mit seinem „Anstand in schwierigen Zeiten“ 2017. Der vorliegende Essay von Schirach geht aber weit darüber hinaus. Denn Schirach fordert dazu auf, für die neuen Rechte zu stimmen (www.jeder-mensch.eu ), damit diese Rechte schneller als 1776 und 1789 umgesetzt werden und nicht Utopie bleiben „Nichts hat eine solche Kraft wie der gemeinsame Wille der Bürgerinnen und Bürger“ schreibt Schirach und hofft.
 
Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch - Luchterhand. 32 Seiten, erscheint am 13. April 2021, auch als Hörbuch zu erhalten.