„Davon glaube ich kein Wort!“

Im Lande Serendip

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Davon glaube ich kein Wort!“
 
Im Lande Serendip

 Von Ernst Peter Fischer

Serendip – so lautet eine alte Bezeichnung für die Insel Ceylon, die heute Sri Lanka heißt. 1745 hat der britische Schriftsteller Horace Walpole ein Märchen mit dem Titel „The Three Princess of Serendip“ geschrieben und darin von Menschen erzählt, die etwas finden, auch wenn sie es gar nicht gesucht haben. Seitdem gibt es im Angelsächsischen den Ausdruck Serendipity. Er wird in der Wissenschaft benutzt, wenn jemand (zufällig) eine Entdeckung macht, hinter der er eigentlich gar nicht her war, und wer Anekdoten zur Wissenschaft erzählt, kann sich auch im Lande Serendip bedienen.
       Die erste Geschichte spielt in Berlin, als dort in den wilden Zwanziger Jahren bei Albert Einstein ein auf Englisch verfaßtes Manuskript eintraf, in dem die Ableitung der berühmten Strahlenformel angegeben war, mit deren Hilfe Max Planck im Jahre 1900 die berühmten Quantensprünge einführen konnte oder eher mußte. Um solch eine Herleitung hatten sich die Größen der europäischen Physik seit Jahren vergeblich bemüht, und nun kam plötzlich Post von dem unbekannten Physiker Satyendra Bose aus Indien, der das Problem gelöst zu haben schien. Einstein machte sich höchstpersönlich an die Übersetzung des Aufsatzes und bemerkte dabei, daß dem jungen indischen Absender ein im klassischen Sinne dummer Fehler unterlaufen war. Allerdings – das merkte Einstein auch: Das Ergebnis von Bose war richtig und wichtig, und das bedeutete für Einstein, daß der scheinbare Fehler eine tiefe Einsicht in die Quantenwelt enthalten mußte. Während klassische Physiker einzelne Partikel als unterscheidbare (winzige) Billardkugeln betrachteten, hatte Bose die atomaren Teilchen als ununterscheidbar behandelt und ihnen damit ihre Identität genommen, auch wenn ihm das gar nicht klar war. Auf diese Idee, ein Elektron nicht von einem anderen unterscheiden zu können, war bislang kein europäischer Physiker verfallen. Bose hatte – ohne es zu wollen – damit eine Besonderheit der atomaren Wirklichkeit erfaßt und verständlich werden lassen. Sie ist heute als Bose-Einstein-Statistik bekannt und vor einigen Jahren in Form einer Bose-Einstein Kondensation bei tiefen Temperaturen nachgewiesen worden, woran unter anderem der deutsche Physiker Wolfgang Ketterle beteiligt war, der dafür 2001 den Nobelpreis für Physik erhalten hat.
       Die zweite Geschichte beginnt im 17. Jahrhundert, in dem Jesuiten ein Mittel gegen die Malaria von Südamerika nach Europa gebracht hatten. Es stammte aus der Chinarinde und bekam den Namen Chinin. 1820 wurde von Chemikern seine molekulare Struktur ermittelt, und nach 1850 wurde das Fiebermittel so begehrt, daß sich viele Forscher an die Arbeit machten, um es zu synthetisieren und viel Geld mit seinem Verkauf zu verdienen. Einer von ihnen war der Brite William Perkins. Er begann mit dem Ausgangmaterial Anilin und addierte Kohlenstoffe und Wasserstoffe in verschiedenen Mengen, ohne wirklich zum Ziel zu kommen. In einem letzten Versuch fügte er ein kräftiges Oxidationsmittel (Kaliumdichromat) hinzu, was aber nur einen häßlich schwarzen Rückstand ergab. Resigniert wollte Perkins aufgeben und nur noch seine Gläser spülen, als er bei dieser Tätigkeit eine intensive Violettfärbung bemerkte, die in seinen Ausguß lief. Perkins hielt ein, sammelte das Material auf und prüfte nach, ob sich damit Stoffe färben ließen. Und die Antwort hieß Ja. Perkins hatte somit zwar kein Fiebermittel hergestellt, aber einen Farbstoff entdeckt, den er Mauve nannte der ihn durch seine industrielle Anwendung reich machte. Heute bekommen Blue Jeans damit ihr attraktives Aussehen.
       Eine dritte Geschichte beginnt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als erste Biologen in ihren Laboratorien anfingen, gespendete Samenzellen einzufrieren. Gesucht wurde dabei eine Methode, mit der ihre Fruchtbarkeit erhalten werden konnte. In einer Versuchsreihe aus dem Jahre 1948 wurde den Samenzellen erst Fruktose und dann noch andere Zucker zugesetzt, um sie dann bei -79°C einzufrieren. Doch nach dem Auftauen waren alle Proben tot – bis auf eine Ausnahme. Hierin waren die Samenzellen quicklebendig, und wie sich durch genaue Analyse herausstellte, enthielt diese Probe keinen Zucker. Bei der Rekonstruktion der Versuchsabläufe stellte sich heraus, daß der Assistent die falsche Flasche erwischt hatte. Was die Zellen am Leben erhielt, stammte aus der Flasche neben der Zuckerlösung. In ihr befand sich eine Lösung aus Glycerin, Albumin und Wasser, die ursprünglich anderen Zwecken diesen sollte, seitdem aber von allen Histologen für ihre Zellkulturen verwendet wird. Als entscheidend für das Leben oder Überleben der Zellen hat sich dabei das Glycerin erwiesen, auf das damals kein Mediziner ohne den glücklichen (oder unglücklichen) Zufall gekommen wäre.
       Eine vierte Geschichte spielt im 19. Jahrhunderts. 1866 gab es in Holländisch-Indien eine große Epidemie der Nervenkrankheit Beriberi, die 600 Jahre zuvor zum ersten Mal in China beschrieben worden war. Im 19. Jahrhundert fingen einige erfahrene Ärzte an, nach einem Bakterium als Verursacher der Krankheit zu suchen, das dafür verantwortlich sein sollte, wie das Paradigma der damaligen Medizin lautete, und bald sah es so aus, als ob sie die richtigen Keime gefunden hatten. Sie meinten, den Rest ihrem Assistenten überlassen zu können, dem 30jährigen Niederländer Christian Eijkman. Er sollte die suspekten Bakterien isolieren, damit Versuchstiere – in dem Fall Hühner – infizieren, aus dem erkrankten Federvieh die Bakterien zurückgewinnen und mit ihnen einen neunen Zyklus starten und damit beweisen, daß Beriberi tatsächlich eine Infektionskrankheit ist, deren Ursache man gefunden hat.
       Doch die Versuche, sie funktionierten nicht wie gedacht, und mit den kränkelnden Hühnern gab es mehr Konfusion als Klarheit. Irgendetwas stimmte oder klappte nicht, und als der holländische Pathologe und Hygieniker schon verzweifelte, da geschah ein Wunder – alle kranken Tiere wurden eines Tages nämlich plötzlich gesund. Als Eijkman fieberhaft nach dem Grund suchte, konnte er zunächst nur feststellen, daß in der Küche, die das Essen für Menschen und Hühner lieferte, nun ein anderer Koch das Sagen hatte. Als Eijkman der Sache genauer nachging, entdeckte er, daß der alte Koch den Hühnern geschälten („polished“) Reis gegeben hatte. Der neue Koch bot ungeschälten Reis an, und der mußte etwas enthalten, was die kranken Hühner heilte. Eijkman entdeckte, daß es nicht Bakterien waren, die die Tiere erkranken ließen, sondern ein Stoff, der dem geschälten Reis und damit im alten Essen fehlte und den die Nervenzellen zu ihrem Funktionieren brauchten. Es konnte angenommen werden, daß es sich dabei ein Molekül handelte, und der fehlende Faktor konnte 1912 identifiziert werden. Er heißt seitdem Vitamin B, hat Beriberi als Vitaminmangelerkrankung verstehen und zugleich therapieren lassen und Eijkman 1929 den Nobelpreis für Medizin eingebracht.
       Noch eine letzte Geschichte aus dem 19. Jahrhundert: Anfang 1896 wurde in Paris die Entdeckung der Strahlen bekannt, die Conrad Röntgen 1895 in Deutschland gelungen war, wobei es dazu die Geschichte gibt, daß Röntgen auf die Frage eines Reporters, was er im entscheidenden Moment, als ihm die neuen Strahlen zum ersten Mal aufgefallen waren, gedacht habe, die Antwort gegeben hat, „Ich dachte nicht, ich untersuchte“.
       Als die Nachricht von den Röntgenstrahlen Paris erreichte, untersuchte Henri Becquerel Uransalze, die bei Lichteinfall leuchteten. Er tat dies bald in der Hoffnung, sie durch Energiezufuhr dazu zu bringen, auch Röntgenstrahlen abzugeben. Zunächst mußte er dazu den Einfluß des Sonnenlichts studieren. Er wickelte eine photographische Platte in ein schwarzes Tuch und stellte Kristalle aus Uransalz darauf, um ihr Bild zu bekommen. Doch dann bedeckte sich der Himmel, und tagelang schien keine Sonne. Um seine Bemühungen wenigstens mit einem Ergebnis notieren zu können, entwickelte Becquerel die Platte trotzdem. Zu seiner Überraschung zeigte sie den Kristall so deutlich, als wenn die ganze Zeit die Sonne geschienen hätte. Er zog sofort den richtigen Schluß, der 1903 mit dem Nobelpreis für Chemie belohnt wurde. Becquerel überzeugte sich nämlich, daß das Uran selbst strahlt, es zeigt „Radioaktivität“, wie seine bereits bekannte Doktorandin namens Marie Curie als Bezeichnung vorschlug, die ebenfalls 1903 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, und zwar den für Physik – den für Chemie hat sie aber auch noch bekommen, und zwar 1911.
       Eine letzte Geschichte aus dem Lande Serendip beginnt im Jahre 1889, als sich die zwei in Deutschland tätigen Mediziner Joseph von Mering und Oskar Minkowski für die Rolle der Bauchspeicheldrüse interessieren. In ihren Versuchen entfernten sie das entsprechende Organ aus Hunden in der Absicht, den dadurch erzielten Einfluß auf die Verdauung zu untersuchen. Lange Zeit dümpelten die experimentellen Arbeiten so vor sich hin, ohne daß etwas von Bedeutung beobachtet wurde. Eines Tages meldete ein Laborassistent sogar ein besonders Ärgernis. Ein Hund hatte auf den Boden des  Laboratoriums gepinkelt, und nun schwärmten massenhaft Fliegen um den Urin herum. Minkowski und von Mering wunderten sich und nahmen sich vor, der Sache auf den chemischen Grund zu gehen. Als sie den Urin analysierten, stellten sie fest, daß er reich an Zucker war, womit der erste Schritt zum Verständnis von Diabetes gegangen werden konnte. Die Ursache der Zuckerkrankheit mußte ein Stoff aus dem Pankreas sein, und heute ist bekannt, woraus er besteht – aus dem Hormon mit Namen Insulin, wobei die Geschichte seiner Entdeckung die Historiker bis heute zerstritten sein läßt und es auch bei der Verleihung des dazugehörigen Nobelpreises eher unverdiente als verdienten Laureaten gegeben hat, was in diesem heiter gehaltenen Buch aber keinen Platz finden soll.
       Übrigens – die Zuckerkrankheit heißt so, weil der Urin eines Patienten Zucker enthält und süß schmeckt. Dies haben Ärzte schon im 17. Jahrhundert entdeckt, als einige von ihnen den Mut fassten oder die Courage zeigten, den Urin eines Patienten mit ihrer Zunge zu schmecken und zu probieren, ob sich da etwas Süßes zeigt. In diesem Zusammenhang zirkuliert unter Medizinern die folgende Geschichte:
       In einer Vorlesung weist der Professor seine Studenten darauf hin, daß sie lernen müßten, sich an unangenehme Situationen zu gewöhnen, und es manchmal nötig sei, seinen Widerwillen gegen einen unangenehmen Test zu überwinden, wenn man damit einer Krankheit auf die Spur käme. Er stellte ein Gefäß mit Urin auf das Katheder, tauchte einen Finger hinein, schleckte seine Hand ab und sagte, „Wenn Sie dabei etwas Süßes wahrnehmen, können Sie auf Diabetes schließen“.
       Anschließend bat er die Studierenden nach vorne zu kommen, und er forderte einen und eine nach dem oder der anderen auf, es ihm nachzutun. Während dies ablief, konnte er beobachten, wie die Gesichter der Probierenden jeweils den Ekel erkennen ließen, den man wohl von Natur aus empfindet, wenn man fremden Urin auf die eigene Zunge bekommt und kostet. Als die Prozedur erledigt war, bedankte sich der Mediziner erst bei seinem Publikum, um dann hinzuzufügen:
       Als Arzt oder Ärztin muß man nicht nur rücksichtslos gegenüber dem eigenen Widerwillen sein und seine Abneigungen im Dienste der Gesundheit überwinden, vielmehr müsse man auch gut beobachten können. Und wer eben genau hingeschaut hat, dem hätte auffallen können oder müssen, daß er zwar den Zeigefinger in den Urin gesteckt, dann aber den Mittelfinger in seinem Mund abgeleckt habe.  
        
 
© Ernst Peter Fischer

(Redaktion: Frank Becker)