Das Damokles-Schwert

Marcus Beiner – „Die Leugnerin“

von Frank Becker

Das Damokles-Schwert
 
Eine Gesellschaft im Extrem-Zustand
 
Die Krise frißt ich in den Alltag.
Marcus Beiner
 
Januar 2021, Deutschland steuert auf den Höhepunkt seiner größten Gesundheitskrise zu. Aktueller als dieser schmale, nichtsdestoweniger die Situation der die Welt beherrschenden neuen Seuche - die nie beim Namen genannt wird - treffsicher auf den Punkt bringende Roman, kann ein Buch wohl kaum sein.
In der städtischen Klinik einer ungenannten Stadt, die jede sein könnte, füllt sich die pneumonologische Spezialstation von Dr. Gregor Gruber. Personal und Ärzte kommen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit, Krankenschwester Paula Knapp hadert mit dem Patienten Kovak, der seine Diagnose in Zweifel zieht und als Grippe abtut. Und sie kann erstmals mit ihrer Lebens- und Arbeitssituation nicht recht fertig werden. Bei der Aufnahme eines neuen Patienten, des Jazz-Musikers Leo Landmesser, mit der Diagnose Lungenentzündung kommt es zu einem Fehler mit nicht absehbaren Folgen. Auch die Nerven der verantwortlichen Ärzte und Verwaltungsspitzen der Klinik sind mehr als angespannt.
 
Hinzu kommt, daß für alle im Roman in Erscheinung tretenden Personen berufliche wie private Planungen heftige Dämpfer bekommen. Dr. Grubers Ehefrau Emmy, die sich wegen der Seuche um ihre in England lebenden Eltern sorgt, muß das Projekt eines Wohnungskaufs verschieben, um ihren Sohn zu Hause zu unterrichten, die Immobilienmaklerin Ingrid Blohm sieht ihre Felle davonschwimmen, weil zu viele potentielle Kunden plötzlich abspringen, Leo Landmesser sieht mit einem Mal seine Zukunft als Saxophonist vor dem Aus. Die Ärzte fürchten sich vor dem Problem der Triage, des Entscheidungsnotstandes, wer im Fall des Falles am Leben erhalten werden müßte. Und immer häufiger tauchen Skeptiker auf, die an der Wahrheit über die Seuche und dem Handeln der schwachen politischen Führung zweifeln, die vor der dramatischen Situation im Land die Augen verschließen, die Gerüchteküche anheizen und andere mitreißen.
 
Marcus Beiner, Philosoph, Literaturwissenschaftler und Historiker, schafft es, in eleganten Linien die genau jetzt die Gesellschaft umtreibenden Probleme mit Brexit, Lockdown, Serum-Herstellung, Impftempo, Homeschooling, Geschäfts- und Restaurant-Schließungen, Existenz-Sorgen, dem Fluch sozialer Plattformen, Querdenkerei, Krisenmüdigkeit und kleinen Fluchten zu verknüpfen. Er beschreibt die seelischen Extremsituationen seiner Romanfiguren nüchtern und doch empathisch. Es geht ihm um Ängste, die Suche nach Orientierung in einem neuen Alltag, um die Macht von Gerüchten und darum, was Wahrheit ist und was Lüge, wwenn beide verschwimmen. Was macht diese Krise, exemplarisch für jede andere – und andere werden kommen -, mit uns? Wie hält die Gesellschaft das Damokles-Schwert über den Köpfen aus? Das ist ihm auf nur 131 Seiten, die immer und ohne jede Effekt- oder Sensationshascherei dicht an der Realität bleiben, erstaunlich gut und spannend gelungen. Der Roman kommt morgen in die Buchhandlungen. Eine Empfehlung der Musenblätter. Unser Buch der Woche.

Marcus Beiner – „Die Leugnerin“
Roman
© 2021 Marcus Beiner / Gardez! Verlag, 131 Seiten, Broschur – ISBN: 9783897962996
12,90 €
 
Weitere Informationen: www.gardez.de  (Webseite zur Zeit im Umbau)