Pocken (Variola) in der Nordeifel

Steffen Kopetzky – „Monschau“

von Johannes Vesper

Pocken (Variola) in der Nordeifel
 
Eine wahre Geschichte
 
Endlich erreichte der DRK-Fahrer mit dem hochfiebernden, schwerkranken, bellend hustendem Kind auf seinen Arm ein Krankenhaus, welches die Aufnahme nicht ablehnte. Das Krankenhaus in Aachen hatte die Aufnahme zuvor abgelehnt. Es komme aus Monschau und könne deswegen in Aachen nicht behandelt werden. Damit beginnt die Geschichte der Pockenepidemie 1962 in Monschau, kein Heimatroman. Zu dieser Zeit interessierte man sich in der jungen Bundesrepublik für den Raketen- und Atombombenwettlauf zwischen Kennedys USA und Chruschtschows Sowjetunion, für die zunehmende Zahl der Gastarbeiter aus Südeuropa, vor allem aber interessierte die Frage, wer der Mörder in einer der erfolgreichsten TV-Serie des WDR in Köln sein mochte. Wenn „Das Halstuch“ lief, waren die Straßen leer.
 
An einem solchen Abend fuhren Prof. Günter Stüttgen und Dr. Nikos Spyridakis in ihrem Käfer von der Uni-Klinik Düsseldorf nach Monschau, zum Krisenstab der Kreisverwaltung, die den Professor zu seinem Leiter berufen hatte. Dort waren Pocken diagnostiziert worden. Fall 1 - ein Mitarbeitet des in Monschau ansässigen Weltmarktführers, der Ofenbaufirma Rither - war mit dieser Diagnose von einem Geschäftsbesuch aus Indien zurückgekehrt. Globalisierung schon damals. Natürlich hatte Fall 1 viele Mitarbeiter gesehen. Mit 1.500 Mitarbeitern handelt es sich um den größten Arbeitgeber der Region. Prof. Stüttgen hatte Erfahrung mit dieser Erkrankung in Indien gesammelt und dachte natürlich sofort an Isolierung der Erkrankten, dachte schnell laut weiter an die drohende Notwendigkeit der Firmenschließung, an die Absage des bevorstehenden Karnevals und…und…und… Die elegante Erbin der Firma, Vera war gerade aus Paris, wo sie Journalismus studierte, für zwei Wochen zurück in die Provinz der Nordeifel gekommen, wollte in Ruhe Musik hören und lesen. Bald belagerte aber die Meute der Journalisten und Fotografen die Fabrik und das Kreiskrankenhaus, berichtete jede Zeitung über die „Pocken in Monschau“. Man fragte sich, ob die Quarantänemaßnahmen adäquat waren, ob die WHO die Herrschaft im Kreis übernehmen sollte. Belgien hatte schon die Grenzen geschlossen. Der Oberkreisdirektor erklärte der Presse, die Politik habe die Situation im Griff, die Epidemie sei fast vorbei und wurde nicht müde zu verkünden, daß der größte Steuerzahler der Region nicht schließen müsse. Dabei wußte er nicht so richtig Bescheid, bekam von den Ärzten zu hören, daß die Zahl der Impfungen noch bei weitem nicht ausreiche, obwohl man impfe, was das Zeug hielte. Von Impfstoffmangel war damals nicht die Rede. Die großen Quarantäneeinrichtungen (Grundschule, Berufsschule, Jugendherberge) reichten kaum, bekam er von den Ärzten zu hören. Trotz dreizehn schwer erkrankter Patienten, elf Familien in Haus-Quarantäne, drei geschlossenen Arztpraxen und drohender Schließung des Krankenhaus realisierte der Oberkreisdirektor nur langsam die Gefahr und verstand kaum, was Prof. Stüttgen ihm sagte, daß „plötzlich auftauchende Dinge und Befunde über uns hereinbrechen werden, von denen wir nicht einmal ahnen, daß wir von ihnen wissen müßten“.
 
Die Schwierigkeiten der Politik bei der Epidemiebekämpfung mit fehlender Akzeptanz von Medizin- und Wissenschaftsempfehlungen, Verwaltungsinkompetenz, widersprüchlichen, halbherzigen Entscheidungen aus Angst vor wirtschaftlicher Katastrophen, das alles kennen wir von Corona aktuell sehr gut. Immerhin der Karneval wurde damals auch in Monschau abgesagt, man fuhr nach Düren, wo sich die Liebesgeschichte zwischen dem überlasteten Pandemiearzt aus Kreta und der Firmenerbin fortsetzte. Aber die Pocken waren auch dort. Der Roman gewinnt in seinem Verlauf stark an Dichte, historischer Tiefe und Spannung. Die Schlacht vom Hürtgenwald hat im unmittelbaren Umfeld Monschaus von Oktober 1944 bis Februar 1945 getobt, und man erfährt das Vorleben der handelnden Personen im 2. Weltkrieg. Dr. Spyridakis stammt aus Kreta, wo seine Familie die Landung und das Gebaren der deutschen Wehrmacht mitbekommen hat. Eingebettet in die fiktive Liebesgeschichte, in die Geschichten der Familie Rither und der mit der Epidemie überforderten Bevölkerung bietet dieser gut recherchierte wie spannende und gut lesbare Roman weit mehr als die Geschichte des historischen Pockenausbruchs 1962. Prof. Stüttgen tat in Monschau, was getan werden konnte. Dr. Spyrikakis arbeitete bis zur Erschöpfung. So konnte dieser vorletzte Pockenausbruch in Deutschland nach wenigen Monaten beherrscht werden. Anmerkung: Zuletzt traten 1970 die Pocken im Sauerland auf. Seit dem 08. Mai 1980 gelten die Pocken weltweit als ausgerottet. Das differenziert geschilderte Bild dieser Epidemie in der Zeit der frühen Bundesrepublik spiegelt das der heutigen Pandemie in erstaunlicher Weise wider. Empfehlenswert!
 
Steffen Kopetzky , geboren 1971, schreibt Romane, Erzählungen Hörspiele und Theaterstücke. „Risiko“ sein Roman von 2015 stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste.
 
Steffen Kopetzky – „Monschau“
Roman
© 2021 Rowohlt Berlin, 351 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-7371-0112-7
22,-€
Weitere Informationen:  www.rowohlt.de