Erotische Induktion

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Erotische Induktion
 
Von Ernst Peter Fischer

Vielleicht war es eben riskant, Watsons Einsicht in die molekulare Schraube der Umarmung zweier paarungswilliger Partner durch Vermutungen über die erotische Bedürftigkeit eines liebenswerten und phantasievollen Biologen zu erhellen. Aber wer sich um die Wissenschaft vom Leben bemüht, hat dauernd mit Vermehrung und Sexualität zu tun, und die gigantische Erfolgsgeschichte der Molekularbiologie ist ja gerade erst dadurch möglich geworden, daß man im Reich des Lebens Sexualität und Geschlechtsverkehr an Stellen gefunden hat, an denen man beides erstens nicht gesucht und zweitens nicht für möglich gehalten hatte. Gemeint sind Bakterien und ihre Viren, die als Bakterienfresser auch Bakteriophagen oder kurz Phagen heißen, wie man es als Ausdruck von einem Sarkophag her kennt, also dem Sarg, in dem im alten Ägypten die Pharaonen aufbewahrt wurden.
       Um darauf zu kommen, daß Bakterien Sex haben, mußte zuerst durch geeignete Experimente geklärt sein, daß Bakterien überhaupt Gene haben, was heute zwar banal klingt, aber in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unbekannt war. Die Erbelemente mit Namen Gene waren zwar schon im 19. Jahrhundert bemerkt und beschrieben worden, aber dazu hatte man Organismen untersucht, die sich sexuell vermehrten, und arme Dinger wie die Bakterien mußten scheinbar ohne dieses Vergnügen auskommen, denn sie vermehrten sich offenbar nur durch Teilung.
       Dies war der Kenntnisstand bis in die Jahre des Zweiten Weltkriegs hinein, aber dann nahm die genetische Wissenschaft vom Leben ihre entscheidende Wendung. Sie begann mit der Entdeckung, daß Bakterien Gene haben, und diesen Fund verdankt die Menschheit dem schon erwähnten Max Delbrück und dem italienischen Biophysiker Salvador Luria, die beiden in den 1940er Jahren in den USA zusammengefunden und in einem Laboratorium bei New York kooperiert hatten.
 
       Bei ihren Versuchen war ihnen eines Tages aufgefallen, daß die in besonderen Kulturen gezüchteten Bakterien bei ihrem Wachsen und Gedeihen neue Qualitäten bekommen und sich zum Beispiel so verändern konnten, daß sie den Phagen, die sie bislang gefressen haben, Widerstand entgegensetzen und weiterlebten. Die Frage lautete, was sich genau in den Bakterien geändert hatte, und die Vermutung stand im Raum, daß es dort möglicherweise Gene gibt, die sich erst wandeln – mutieren – können und dann den Bakterien als Mutanten neue Qualitäten geben. Doch wie konnte man das herausfinden?
       Luria experimentierte fröhlich drauflos in der Hoffnung, daß mehr Bakterien auch zu mehr Mutanten führten, die sich erkennen ließen, aber die Ergebnisse blieben in der Luft hängen. Dann stand er eines Abends vor einer dieser „einarmigen Banditen“ oder „Slotmachines“, wie in den USA die Spielautomaten heißen, die man mit einem Geldstück durch einen Schlitz füttert und in denen sich dann meistens drei Kurbeln drehen, um nach ein paar Sekunden anzuhalten und dann ein Muster anzuzeigen, mit dem man einen Gewinn erzielt hatte oder nicht. Das heißt, die meiste Zeit geht der Einsatz beim Spiel verloren, aber ab und zu mal zieht man das große Los, und der Spieler knackt den Jackpot, wie man sagt. Dann rappeln die Münzen nur noch so aus dem Spielautomaten, und dies passierte genau in dem Augenblick, in dem Luria etwas verträumt und leicht beschwipst neben einer solchen „Slotmachine“ stand und den Spielern zusah, die ihr Geld in der Schlitze stecken und auf Gewinne hofften. Und in dem Moment fiel ihm ein, was an seinen Experimenten falsch war.
       Wonach er doch suchte, waren die Hauptgewinner in der genetischen Lotterie der Bakterien und nicht alle die Zellen, bei denen nur der normale Einsatz eine Rolle spielte und sonst nicht viel passierte. Er mußte seine Bakterien so von den Phagen angreifen lassen – und sie dabei beobachten können –, daß einige von ihnen den genetischen Jackpot knacken und der Experimentator die überlebenden Gewinner im Kampf gegen die Viren ermitteln und zählen konnte, und Luria brauchte dazu einen ausgewiesenen Kenner der Statistik. Er rief Delbrück an, der doch Physik studiert hatte und sich mit zufälligen Abläufen auskannte, der lieferte bald die erforderliche Theorie, und 1943 konnten die beiden in einer Gemeinschaftsarbeit den Beweis vorlegen, daß nicht nur die Bakterien Gene haben, sondern auch die Viren (Phagen), die sie angreifen. Der Aufstieg der Genetik in Form einer Molekularbiologie mit Viren und Bakterien – statt mit Mäusen und Fliegen – nach dem Zweiten Weltkrieg war jetzt nur noch eine Frage der Zeit.
       Als Delbrück und Luria mit den Phagen experimentierten, konnte man diese winzigen Formen des Lebens zunächst noch nicht sehen. Doch in denselben Jahren entwickelten andere Wissenschaftler das heute als Elektronenmikroskop bekannte Instrument, mit dem sich auch bakterielle Viren sichtbar machen lassen, und als Luria die ersten Bilder von ihnen sah und erkannte, daß die Dinger über Köpfchen, Beinchen und andere Strukturelemente verfügten, rief er in seiner Begeisterung aus, „Mein Gott, die haben ja Schwänze.“
 
       Mit den Schwänzen bohrten die Phagen ein Loch in die Außenwand der Bakterien, um anschließend ihr genetisches Material durch diese Öffnung zu schleusen und die Maschinerie der angegriffenen Zelle zu übernehmen. Sie konnten dabei auch ihre DNA in das genetische Material der Bakterien einschmuggeln und sich hier ausruhen und verstecken, und in diesem Fall sprachen die Genetiker von einem Prophagen. Wie sich in den folgenden Jahren – vor allem durch Untersuchungen des Franzosen Francois Jacob und seiner Kollegen in dem dafür eingerichteten Institut Pasteur in Paris – zeigte, gab es einen Weg, dieses molekulare Dornröschen, den friedlich schlummernden Phagen im Erbmaterial der Bakterien, wieder wachzurütteln, aber um ihn gehen zu können, mußte erst gelernt werden, daß auch die Bakterien – wie die Menschen und andere sexuell sich vermehrende Lebewesen – in zwei Formen existierten, die man dann auch Weibchen und Männchen taufte. Das Männchen spendet sein genetisches Material, und das Weibchen empfängt es, wie den meisten Menschen vertraut sein sollte. Durch geeignete Kreuzung der beiden Bakteriensorten konnten dann die in ihnen schlummernden Prophagen wieder freigesetzt und aus ihnen vermehrungsfähige Viren werden, und die französischen Forscher nannten diese Aktivierung liebevoll die „erotische Induktion“ des Prophagen. Leider wurde dieser schöne Ausdruck einkassiert, als die Ergebnisse veröffentlicht wurden. In der Fachliteratur war daraus eine eher steril klingende „zygotische Induktion“ geworden.
       Jacob und andere französische Molekularbiologen schauten im Laufe ihrer Arbeiten dann immer genauer hin, was passierte, wenn sich weibliche und männliche Bakterien trafen. Sie wollten wissen, ob es zu einer Kopulation kommt, und stellten fest, daß so etwas tatsächlich passiert, nur ist in der scheuen Fachwelt dabei von Konjugation die Rede. Die männliche Spenderzelle streckt ein Schwänzchen – korrekt: ein Pilum – in die Gegend und führt es erst dem Weibchen ein, um anschließend durch dieses molekulare Rohr genetisches Material strömen zu lassen, was einem irgendwie bekannt vorkommt.
       Die Versuchung war für Jacob zu groß, und so konzipierte er ein Experiment, über das selbst Fachkreise als „coitus interruptus“ reden, ohne daß dies in der wissenschaftlichen Publikation so genannt wird. In einem „Coitus-Interruptus-Experiment“ gibt man dem Männchen Zeit, sein Pilum auszufahren und mit ihm einzudringen, schüttelt das Paar aber nach einer festgesetzten Zeit auseinander, wodurch man auf der sachlichen Ebene die Gelegenheit bekam, die Reihenfolge der Gene ausfindig zu machen, die das Männchen während der Kopulation oder Konjunktion dem Weibchen zuschiebt. Als ob da eine Spaghetti-Nudel stückchenweise weitergereicht würde, auf der genetische Instruktionen hintereinander lagen.
       Es war damals viel los in der Biologie, und die Erkundungen der erotischen Induktion und die genetische Analyse des bakteriellen „coitus interruptus“ wurden in den Laboratorien Paris von allen Beteiligten als Zeit der reinen Freude empfunden. Überall herrschte Hochstimmung, und der Berichterstatter wäre gerne dabei gewesen, um mitfeiern und so das Leben im Kleinen und Großen verstehen zu können.
       Er wäre auch gerne dabei gewesen, als Jacob vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle schon einige Jahre zuvor – im Sommer 1959 – in den Elysée-Palast eingeladen wird, aber nicht als erfolgreicher Molekularbiologe, sondern als Veteran des Zweiten Weltkriegs, an dem Jacob zwar teilgenommen, in dem er aber nicht viel gewonnen und den er nur schlicht überlebt hat. Nun steht er vor seinem Präsidenten, und dabei kommt folgende Unterhaltung zwischen den beiden Männern zustande:
 
       „Aha! Jacob! Freut mich, Sie wiederzusehen.“ Pause. „Was tun Sie jetzt?“
       „Ich bin in der wissenschaftlichen Forschung tätig, mein General.“
       „Aha! Sehr interessant. In welchem Bereich?
       „Biologie, mein General.“
       „Aha! Sehr interessant. Und womit beschäftigen Sie sich genau?“
       „Mit Genetik, mein General.“
        „Aha! Sehr interessant. Und wo arbeiten Sie?
       „Am Institut Pasteur, mein General-„
       „Aha! Sehr interessant. Haben Sie, was Sie brauchen?“
       „Nein, mein General.“
       „Auf Wiedersehen!“
 
       Jacob hat sich durch dieses Desinteresse von höchster Stelle nicht aufhalten lassen und seine Experimente gemacht, die manchmal so erfolgreich waren, daß er und seine Mitarbeiter in lauten Jubel ausbrachen und die ganze Truppe auf den Fluren des Instituts wie ein Haufen von Verrückten wilde Freudentänze aufführte. Ihnen kam die Natur wie ein großherziges Mädchen vor, das sich immer wieder als großzügig erwies, wenn man es mit seiner Reinheit nicht allzu genau nahm.
       Jacob agierte in seiner Leidenschaft nicht wie einer, der die Wahrheit sucht, sondern wie einer, dem die Wahrheit nachstellt und die ihn vorantreibt, wie am Ende seiner Autobiographie „Die innere Statue“ erkennbar wird, wenn er schildert, wie er an einem Winterabend das Institut verläßt, durch den Jardin du Luxembourg den Heimweg antritt und plötzlich die festlich geschmückten Geschäfte und die vielen fröhlichen Menschen in den Straßen bemerkt. Stimmt, es ist Weihnachten, und Jacob stapft durch den Schneematsch seinem Heim und seiner Familie zu. Es ist dunkel, es herrscht eine gespenstische Ruhe im Park, die sich auch des Molekularbiologen zu bemächtigen scheint.  Doch als er den Jardin du Luxembourg verläßt, fällt ihm unvermittelt ein Experiment ein, das er machen könnte, um mit seiner Hilfe mehr über die Zellteilung zu verstehen. Er könnte es einmal versuchen. „Ein ganz einfaches Experiment. Ich brauchte nur …“
 
 
© Ernst Peter Fischer