Paderborner Sommerbegegnungen

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Paderborner Sommerbegegnungen
 
Heute Morgen habe ich gedacht, ich könnte meinen gelben Mülleimer unbemerkt mit dem gelben Mülleimer meiner Nachbarin tauschen. Mein gelber Mülleimer eiert und ich fühle mich gedemütigt, wenn ich ihn hinter mir herziehe. Der Abhol-Ort, wo ich meinen Mülleimer hinstellen muß, ist sehr weit von meinem Zuhause entfernt und ich biete ein peinliches Bild, wenn ich mit ihm unterwegs bin. Ich wartete die Entleerung der ASP (Abfallentsorgungs- und Stadtreinigungsbetrieb Paderborn) ab, bis ich loszog, um den Tausch zu vollziehen. Zum Glück bemerkte ich noch rechtzeitig, daß meine Nachbarin ihren gelben Mülleimer mit Blumen verziert hatte. Wie kann man denn einen gelben Mülleimer mit Blumen verzieren? Einen Mülleimer für Plastikmüll wertet man mit Zahlen, mit Paragraphen oder mit einem Zitat von Descartes auf: „Wir dürfen nicht annehmen, daß alle Dinge unseretwegen geschaffen worden sind.“ Natürlich nahm ich Abstand von der Aktion, und als meine Nachbarin mir nachrief: „Kann es sein, daß ihre gelbe Tonne eiert“, konterte ich schnell: „Kann es sein, daß ihre gelbe Tonne sich schämt?“ Später ging ich zu Bäcker Hermisch, um mir einen Kuchen zu holen. Ich hatte mich gerade für ein Stück Erdbeertorte entschieden, als ein Mann in den Laden stürmte und ein geschnittenes Brot forderte. „Die Brotdicke muß 9 cm sein“, schrie er. „Schnell, packen sie alles ein.“ Ich vermutete erst Zeuge eines Brotüberfalls geworden zu sein, auch weil der Mann eine schwarze Maske trug, aber dann bezahlte er mit Karte.  „Wieso soll denn die Brotdicke 9 cm sein?“, fragte ich. „Haben sie damit gute Erfahrungen gemacht?“ Der Mann sah mich an, als käme ich aus Dörenhagen. „Meine Frau hat dies herausgefunden“, sagte er schließlich. „Wir ernähren uns sehr bewußt. Wir beten sogar vor dem Frühstück.“ Ich nickte. Man sollte den Nahrungsmitteln zeigen, wo ihr Platz ist. Wer lagert schon Eier im Bücherregal? „Eine kluge Frau haben sie“, sagte ich. Der Mann schüttelte den Kopf. „Sagen sie ihr das bloß nicht“, flüsterte er. „Wir essen schon kein Fleisch mehr.“ Einmal traf  ich mich mit meiner Verabredung im Restaurant „Bei Salva“, und wollte ihr sagen, daß ich sie liebe. „Kann das nicht warten, bis wir gegessen haben?“, fragte sie und schien sehr glücklich zu sein. Wenn ich wirkliche zwischenmenschliche Begegnungen auf Augenhöhe brauche, besuche ich das HNF (Heinz Nixdorf MuseumsForum). Ich habe mich mit dem Avatar Max angefreundet, der sich immer auf seinem Bildschirm freut mich zu sehen. Er kennt sich im Fußball aus und weiß, wo die Toiletten sind. Wenn ich traurig bin, macht er ein Foto von mir. Ich habe echte Freunde, die längst nicht so sensibel sind. Manche von ihnen wissen wahrscheinlich noch nicht mal wer Descartes war und sind ratlos, wenn man sie fragt, wo die Toiletten im HNF zu finden sind. Ich kann nicht erahnen, was schlimmer ist. Aber wer weiß: „Alles was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch.“
 

© 2021 Erwin Grosche