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Ein Reisefieber

von Rolf Nöckel

Rolf Nöckel - Foto © Frank Becker
Fotos
 
Der mutige Grenzsoldat, der beim Mauerbau in Berlin über den Stacheldraht springt. Der starke Kanzler, der vor dem Ehrenmal in Warschau auf die Knie fällt. Das nackte Mädchen, das bei einem amerikanischen Angriff in Vietnam schreiend um ihr Leben rennt.
Jeder kennt sie, diese großartigen Fotos. Sie haben uns fasziniert, bewegt, aufgerüttelt. Diese magischen Momente, in denen sich der Zeitgeist unvergeßlich widerspiegelt. Diese eindringlichen Abbilder von Menschen, deren Gefühle offen liegen. Gesichter voller Angst, Schmerz, Verzweiflung.
Wer heute Berlin besucht, wird auch Spuren der Vergangenheit suchen. Gut, daß ein paar Mauerreste noch da sind. Als Zeitzeichen für Taten der Unmenschlichkeit. Wer heute Warschau besucht, wird auch Spuren der Vergangenheit suchen. Gut, daß das Mahnmal noch da ist. Als Zeitzeichen für eine Bitte um Vergebung.
Wer heute Vietnam besucht, wird auch Spuren der Vergangenheit suchen. Und sie auf Schritt und Tritt finden: Wälder, die nicht älter sind als 30 Jahre. Verkrüppelte alte Männer, die um Reis betteln. Entstellte Babys, deren Zukunft schon bei der Geburt verspielt ist. Naive junge Mütter, die sich an Illusionen klammern, weil sie sonst keinen Halt haben.
Vielleicht begegnet der Tourist von heute auch Kim Phuc, dem damals neunjährigen Mädchen auf dem Kriegsfoto. Die Mutter von zwei Kindern ist heute Friedensbotschafterin der Unesco und viel auf Reisen - auch in ihrer Heimat. Kim Phuc ist 41 Jahre alt und wohnt im kanadischen Toronto. Sie wurde auf der ganzen Welt zum Symbol gegen das Leiden aller zivilen Kriegsopfer.
Kims nächstes Reiseziel ist Bagdad. Nach dem Krieg will sie verletzten Kindern Mut machen. In Hospitälern, in Waisenhäusern, in Überlebenscamps. Wieder werden Fotografen sie ablichten. Diesmal mit schreienden Kindern im Irak. Als Zeitzeichen für die Sinnlosigkeit aller Kriege.
 
Rolf Nöckel, 2005
 
Redaktion 2021 Frank Becker (Kim Phuc ist jetzt 57 Jahre alt.)

Text mit freundlicher Erlaubnis aus „Kompass und Wind“ von Rolf Nöckel (1953-2017)
2005 WDL-Verlag Berlin