Das Bratkartoffeltrauma

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Das Bratkartoffeltrauma
 
Als Bäckereifachverkäuferin braucht man ein sicheres Händchen. Das Teilen gehört zum Berufsbild, und wer zu großen Streuselkuchen anbietet, darf sich nicht wundern, wenn man davon nur die Hälfte will. Für Brote gibt es Maschinen, die das übernehmen, aber Kuchen muß man noch mit der Hand teilen und nach Augenmaß entscheiden, wo die Mitte ist. Ich schaue immer voller Sorge auf diesen Vorgang, weil ich weder der Kunde sein will, der das kleinere Stück bekommt, noch als kniepig erscheinen möchte, weil ich das größere haben will. Wissen viele Menschen nicht mehr, wo die Mitte ist? Erst kürzlich erlebte ich im Südring einen Teilvorgang einer Bäckereikraft, die mit dem Messer in die Auslage fuhr, um dort freischwebend einen Streuselkuchen zu hälfteln. Sie hätte natürlich den Kuchen aus der Auslage holen müssen, um ihn dann vor Gott und der Welt, nach einem Augenblick der Konzentration, „zack“ in der Mitte durchzuschneiden. So rutschte das Messer ab, der Schnitt wurde schief und ein Stück war deutlich größer als das andere. „Geben sie mir bitte diese Hälfte“, sagte ich und zeigte auf die größere Portion. Natürlich macht man sich mit solchen Entscheidungen unbeliebt. Das geht ja zu Hause weiter, wo man den Kindern erklären muß, daß jemand ein größeres Stück bekommen wird, nur weil die Fachkraft in der Schnellbäckerei keine Sorgfalt walten ließ. Ich kenne diese Unsicherheiten bei der gerechten Aufteilung auch in anderen Bereichen.

       Der Gasthof Weyher hat es sich zur Angewohnheit gemacht, die Bratkartoffelbestellungen von denen, die an einem Tisch sitzen, in einer Schüssel zu servieren. Auch wenn mehrere Bratkartoffelfreunde sich dann outen, bekommt die Tischgesellschaft die Köstlichkeit in einer Schüssel serviert, die dann größer ist. Das ist zünftig und fördert das Miteinander der Menschen. Am 23. Juli 1991 saß ich dort um circa 17:00 Uhr mit meinem Verleger Michael M. Schardt vom Igel-Verlag. Ich weiß dieses Datum noch genau, weil ich an diesem Tag bratkartoffeltraumatisiert wurde. Mein damaliger Verleger und ich saßen an einem Tisch, um Bratkartoffeln mit Beilage zu essen. So bekamen wir nach unserer Bratkartoffelbestellung, die wir mit Rühreier und Pilzen abrundeten, eine große Schüssel mit Bratkartoffeln gebracht, auf die sich sofort mein Verleger, haste nicht gesehn, stürzte, als wäre er André Wiersig, der Paderborner Bezwinger der Weltmeere. Ratzfatz war alles weg und landete im Bauch von Michael M. Schardt, meines glücklichen Verlegers vom Stamme Nimm. Ich ging hungrig nach Hause und bin seitdem bratkartoffeltraumatisiert. Vor der Liboriwoche lud mich nun mein derzeitiger Lieblingsverleger Karsten Strack, vom lektora-Verlag, zum Bratkartoffelessen ein. Diesmal war ich schlauer und sagte: „Gerne, aber nur, wenn wir bei Weyhers an zwei getrennten Tischen sitzen.“ Da lachte er herzlich und mir fiel das alte ostwestfälische Sprichwort ein: „Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt.“
 

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