Die Verbrechen der DDR: Erinnerungen und Klarstellungen

„Nahschuß“ von Franziska Stünkel

von Renate Wagner

Nahschuß
Deutschland 2021 

Drehbuch und Regie: Franziska Stünkel
Mit: Lars Eidinger, Devid Striesow, Luise Heyer, Paula Kalenberg u.a.
 
Die DDR ist noch immer, mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, eine offene Wunde im Bewußtsein der gegenwärtigen Bundesrepublik. Wohl wissend, wie viele „Ossis“ sich mit dem Regime eingerichtet hatten und der neuen Freiheit ohne Freude entgegen sahen, wollte man das Problem kaum angreifen. Leander Haußmann hat sogar ein paar „lustige“ Filme gedreht, die den Eindruck erwecken sollten, die Diktatur sei eigentlich ein Operettenstaat gewesen. Eigentlich hat nur Florian Henckel von Donnersmarck vor 15 Jahren mit „Das Leben der anderen“ das Walten der Stasi im Leben der damaligen Intellektuellen in den Fokus gerückt. Seither ist diesbezüglich kaum etwas geschehen. Dafür trifft der „Nahschuß“ jetzt direkt, nicht nur in den Hinterkopf (so wurde in der DDR hingerichtet), sondern ins Herz und in den Intellekt.
Franziska Stünkel, bisher als Dokumentarfilmerin und Fotokünstlerin tätig, hat sich mit innerer Leidenschaft und bemerkenswerter äußerer Kühle (die dem Film sehr gut tut, es wollte ja keine Gefühlsorgie werden) ein reales Schicksal vor genommen, den Wissenschaftler Werner Teske, das letzte in der DDR hingerichtete Opfer des Regimes. Man muß über ihn nicht mehr wissen, als daß es diesen Fall gab – vermutlich genau so oder so ähnlich. Ein Lehrstück.
 
Wenn der Wissenschaftler Franz Walter vor dem Abflug aus dem Flugzeug geholt wird, das ihn zu sozialer DDR-Tätigkeit nach Äthiopien bringen soll, ahnt man schon das Schlimmste. Und das scheinbar Beste passiert – die Lehrstuhlinhaberin an der Universität (Victoria Trauttmansdorff), die auch beim kommenden schmutzigen Spiel dabei ist, teilt ihm mit, daß er zu ihrem Nachfolger auserkoren sei. Die „wissenschaftliche“ Tätigkeit, die ihm Dirk Hartmann (Devid Striesow) bis dahin so harmlos anzubieten scheint, ist mit allerlei Privilegien (Wohnung, Einkäufe) verbunden – und stellt sich schnell als häßlich heraus.
Ein Fußballer, der aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen ist, soll in jeder Hinsicht (bis zum „Selbstmord“) erledigt werden – dafür erfindet man sogar eine Krebskrankheit seiner Frau und setzt eine Honigfalle (Paula Kalenberg) auf ihn an. Und Franz Walter findet sich quasi als deren „Führungsoffizier“ (auch als es ihm das Herz zerreißt, daß er sie überreden muß, das Kind, das sie danach erwartet, abzutreiben). Walter selbst darf seine Freundin (Luise Heyer) heiraten und zu den Günstlingen des Systems zählen.
Schritt für Schritt werden die Forderungen brutaler – an einen an sich anständigen Menschen, der schnell genau erkennt, in was er sich eingelassen hat und der sich zum Opportunismus des gewissenlosen Mitmachens nicht durchringen kann. Sein Versuch abzuspringen, mißlingt, ohne daß er noch Kontakt mit „drüben“ aufgenommen und der DDR echten Schaden zugefügt hätte.
 
Dennoch – der Schauprozeß, den man ihm macht, läuft auf die Todesstrafe hinaus. Die Drehbuchautorin / Regisseurin, die das Thema durchaus mit genauer Schärfe angeht, erspart uns den Nahschuß selbst. Dafür dürfen wir lange zusehen, wie ein Sarg in das Feuer des Krematoriums geschoben wird.
Lars Eidinger ist derzeit der Star des deutschen Films, wenn es um vordergründige Ecken und Kanten geht. Anfangs naiv erfreut darüber, daß er scheinbar Chancen erhält (wie naiv darf man sein?), wird er unaufhaltsam in immer verbrecherische Machinationen gedrängt – bis er das System, das er selbst auf andere angewendet hat, in aller brutalen körperlichen und seelischen Härte zu spüren bekommt (mit den bekannten Verleumdungen, daß seine  Frau ohnedies mit der Stasi zusammen arbeite und dergleichen). Ein Schicksal, so grausam es ist, das man keine Sekunde lang bezweifelt.
Nachdem die Bundesrepublik bezüglich des Dritten Reichs schon seit Jahrzehnten intensiv vor der eigenen Türe kehrt, sollte man auch sagen dürfen, daß die DDR ein „würdiger“ Nachfolger des unwürdigen Nazi-Staates war. Machen wir uns keine Illusionen – Millionen Menschen wurde ein Leben gestohlen, auch wenn das Regime es geschafft hat, daß nicht alle es gemerkt haben. Auch für solche Erinnerungen und Klarstellungen ist das Genre des Films da.
 
 
Renate Wagner