Die Lautsprecherin
Wissen Sie, was ein Lautsprecher ist? Aha. Das hätte ich jetzt wahrscheinlich auch gesagt. Aber daß es im Zuge von Frauenministerien und Gleichstellungsbeauftragten auch schon eine beachtliche Menge von Lautsprecherinnen gibt, das ist Ihnen wohl bisher entgangen?
Macht nix, mir auch; jedenfalls bis zu jenem sommerlich verölten Sonntagmittag. Die Hitze hatte etwas nachgelassen, und man konnte sich wieder ohne Schweißausbrüche die Schuhe zubinden, da sag ich so zu Inge: „Weißte was, wir gehen heute mal richtig schön essen!“ „Wo denn?“, meinte meine praktisch veranlagte schöne junge Frau postwendend, „unser Grieche ist in Urlaub, ich glaube in Italien, unser Italiener läßt renovieren, ich glaube von Portugiesen, und in Portugal, da kenne ich mich nicht aus!“ - „Kein Problem“, hab ich gesagt, „dann gehen wir in die Ratsstuben - deutsch gegessen haben wir schon lange nicht mehr!“ Denn ich dachte: Da kann man nicht viel verkehrt machen. In deutschen Ratsstuben essen sonntagmittags deutsche Familien, und unvorhersehbare Ereignisse sind ziemlich absehbar. Das war ein Fehler.
Direkt am Nebentisch hatte sich ein deutscher Familienverband inklusive Patentanten und Schwippneffen vielköpfig niedergelassen. Normalerweise, würde die Statistik sagen, und schon sind wir beim Thema, befindet sich in einer solchen Menschenansammlung mindestens ein sogenannter Lautsprecher, der traditionell männlicher Provenienz ist.
Mein Onkel Paul zum Beispiel gehörte zu diesem wahrhaft deutschen Stamm. Noch während die anderen unter gedämpftem Murmeln Platz nahmen, schrammte er seinen Stuhl kräftig krachend über den Steinfußboden und schrie dem Kellner, der gerade in der gegenüberliegenden Ecke des Saales eine Flasche Wein zu entkorken versuchte, in den gefrackten Rücken: „Mir schon mal ein großes Bier!“ Und wenn dem der Korkenzieher aus der Hand gefallen war: „Kann man das erste Gericht statt mit Steak auch mit Schnitzel haben? Und statt Salzkartoffeln Fritten, aber ohne Salat, dafür dicke Bohnen!“
Nun ist Onkel Paul schon lange nicht mehr unter den Lebenden, und da gilt der alte Grundsatz: Nihil Mortuis nisi Fritten. Aber irgendwie hatte ich der Illusion angehangen, mit Onkel Paul sei die Spezies des deutschen Lautsprechers überhaupt - sozusagen als Generationsproblem - ins Grab gesunken. Mitnichten! An seine Stelle ist in ebenbürtiger Nachfolge die Lautsprecherin des begonnenen dritten Jahrtausends getreten.
Unsere Nachbarfamilie saß noch nicht, als die Erstgeborene, geschminkt wie Ende dreißig, gekleidet wie Ende 18, Alter ungewiß, Geisteszustand nicht erkennbar, ihren Vater ansprang: „Papa-ha!“, und damit begann, die Vorzüge eines mehrmonatigen Amerika-Aufenthaltes zu preisen, dessen Kosten grob geschätzt für Jahre den Aufenthalt der Familie in Restaurants jeder Art unmöglich machen würde: „Papa-ha!“
Was an sich nicht so schlimm ist; denn auch Weißkohl mit Salz ist diskutabel, wenn damit die Chance verbunden ist, eine solche Stimme nicht hören zu müssen: „Papa-ha!“ Würde mal sagen: Zwischen dem Schnarren musealer 24-Nadel-Drucker und dem charmanten Scheppern, mit dem Müllfahrzeuge den Inhalt der Abfalltonnen in sich hineinschütteln.
Und in diesem Moment durchzuckte mich die blitzartige Erkenntnis, daß der weibliche dem männlichen Lautsprecher, und das dürfte den Geschlechterkampf endgültig entscheiden, weit überlegen ist, wenn´s drauf ankommt, und hier kommt es drauf an.
Zwar gleichen sich die Reaktionen von männlich oder weiblich beschallten Menschen, senken sich die Blicke gleichermaßen scheu auf den Vorspeisenteller, verstummen die Gespräche bis auf kleine Murmler, die das zur Kommunikation mit dem Personal Nötigste zu regeln versuchen; doch wie es in den Menschen aussieht - das ist der Unterschied.
Meinen Onkel konnte ich in meinen Phantasievorstellungen jederzeit standrechtlich erschießen oder von einem hartnäckigen Kehlkopfleiden befallen lassen - aber bei „Papa-ha“, da war die Phantasie am Ende, und steinzeitlich-männliche Beißhemmungen taten ihr Übriges.
Ist eigentlich jemals ernsthaft darüber nachgedacht worden, was jenen geheimnisvollen Umständen, die sich in rätselhaften Vermißtenanzeigen niederschlagen und mit den Worten enden: „Bin mal eben Zigarettenholen!“, was also jenen Umständen zugrunde liegen mag unter besonderer Berücksichtigung der Tatsache, daß dabei in vielen Fällen von eingefleischten Nichtrauchern die Rede ist?
Nicht. Und so plärrte und quietschte die Luft von einem femininen Diskurs über die wesentlichen Themen der Zeit: Kunst, Mode, und alles, was noch in dieser Zeitschrift im Wartezimmer des Frauenarztes gestanden haben mag, wurde besungen, inklusive des endlich nachgewiesenen Umstandes, daß weibliche Brustwarzen empirisch meßbar sensibler sind als männliche. Und natürlich die Liebe.
Demzufolge war das bedauernswerte männliche - selber schuld - Anhängsel unserer Lautsprecherin, nein, nicht etwa ohrenkrank, wie man hätte vermuten können, sondern kurzsichtig, immerhin etwas; hatte aber offensichtlich bei der Wahl seines neuen Brillengestells so uncool daneben gegriffen, daß die Liaison praktisch als bereits beendet betrachtet werden konnte - am elegantesten durch besagte Bildungsreise in die Vereinigten Staaten.
Während sich all dies lautstark, aber dafür ohne Pause in den halligen Raum ergoß, versuchte „Papa-ha“ mit nervös zuckenden Schultern den anderen Insassen den Rücken zuzukehren; wobei der graubehaarte Kopf nach Art der Seychellen-Schildkröte immer tiefer zwischen die steif aufragenden Schulterpolster seines ziemlich total ekelhaft veralteten Anzuges zu kriechen versuchte. Ein Bild, das jeden Tierschützer sofort zum organisierten Spontan-Boykott, sagen wir mal, aller deutschen Ratsstuben und -keller getrieben hätte.
Als wir unter Zurückweisung von Nachspeisen und Kaffee aller Art wieder ans Tageslicht gelangten und im heimeligen Innenstadtlärm auf der Straße standen, hab ich Inge kurz angeguckt und gesagt: „Lebenslänglich Einzelzelle Sprechverbot.“ Und meine schöne junge Frau hat gesagt: „Einverstanden - aber im Männerkloster!“ Denn ein bißchen möchte sie ja auch beitragen, zur Emanzipation.
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003
Die Illustration stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.
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