Eduard Mörike: „Gebet“
Vom Ideal der 'Goldenen Mitte'
Von Heinz Rölleke
Eines der bekanntesten und meistvertonten Gedichte Eduard Mörikes erschien zum ersten Mal vollständig 1848 in seiner Gedichtsammlung:
Gebet
Herr! schicke, was du willt,
Ein Liebes oder Leides;
Ich bin vergnügt, daß beides
Aus deinen Händen quillt
Wollest mit Freuden
Und wollest mit Leiden
Mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Bescheiden.
Die zweite Strophe hatte bereits 1832 als selbständiges Gedicht ihren Platz im Roman „Maler Nolten“. Dort spricht Agnes, die
Mörike bewegt sich hier im Ideenbereich der Weimarer Klassik. Goethes Gedichte „Alles gaben die Götter“ und „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden“ berufen ebenfalls statt des Schicksals göttliche Instanzen als Spender zweier Extreme zwischen denen der Mensch den 'Goldenen Mittelweg' finden muß. Im ersteren klingt nicht zufällig eine Anspielung auf die Klassische Antike mit:
Alles gaben Götter die unendlichen
Ihren Lieblingen ganz
Alle Freuden die unendlichen
Alle Schmerzen die unendlichen ganz.
Im Divan-Gedicht wird an Systole und Diastole, Ein- und Ausatmen, als Lebens- und Atemformen des Menschen erinnert:
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.
Ähnlich formuliert auch Faust Mephisto gegenüber dieses erstrebenswerte Ideal:
Da mag denn Schmerz und Genuß,
Gelingen und Verdruß
Mit einander wechseln, wie es kann;
[Mein Ideal: Der „Menschheit“...]
Wohl und Weh auf meinen Busen häufen (v. 1756-1773)
Mörike schließt sich direkt dem gleichen antiken Ideal der χρυσῄ μέον (Aristoteles), der aurea mediocritas (Horaz, Ovid) an. Die extremen Pole, zwischen denen der Mensch seinen Weg finden muß, sind in jedem Fall Schickungen aus dem göttlichen Bereich.
Der oft berufene 'Goldene Mittelweg' bezeichnet keinesfalls Mediokrität, keine Beschränkung auf den kleinste gemeinsamen Nenner, sondern den Königsweg zu einem erfüllten Leben. In diesem Sinn verwendet auch die hochmittelalterliche Klassik das Bild etwa in der ritterlichen Tugendlehre. Durch „zuht“ soll man sich lebenslänglich „diu mâze“ (ausgeglichene Mäßigkeit) in allem erarbeiten, so daß es weder zu unangemessen übertriebenen Glücks- noch Leiderfahrungen kommen kann. Dieses Ideal hat sogar einen sprachlichen Niederschlag gefunden: Man vermied die Extrembezeichnungen und umging sie durch Umschreibungen. Statt gemeintem „nie(mals)“ sagte man „vil selten“, statt „immer“ hieß es „vil dicke“ (sehr oft), „alle“ umschrieb man mit „manige“ (viele).
Mörikes schlcihtes „Gebet“ schließt nahtlos an diese großen antiken, mittelalterlichen und klassischen Ideale an. Die einleitende Anrede an den „Herrn“ verwendet die altdeutsche Form „willt“ statt „willst“ und setzt das Adverb „ver-gnügt“ ausschließlich in seiner mittelhochdeutschen Bedeutung „zufrieden“ ein (man be-gnügt sich ganz und gar mit dem, was Gott schickt) – nach der moderneren Wortbedeutung wäre es absurd zu behaupten, man sei über das einem zugeschickte „Leiden“ glücklich oder eben vergnügt. Hier stimmt Mörike mit dem großartigen Barockgedicht „An sich“ zur Magnanimitas des Paul Fleming aus dem Jahr 1641 an:
Vergnüge dich an dir
[…] Sein Unglück und sein Glücke
Ist ihm ein jeder selbst.
Nicht das Maß des einem zugeteilten Unglückes oder Glückes ist für die Zufriedenheit des Menschen verantwortlich, sondern wie er damit umgeht (nimm den Goldenen Mittelweg zwischen den Extremen und sei mit dir zufrieden).
Die Eingangsstrophe ist im gleichmäßig dreihebig alternierenden Metrum und dem aus den gewohnten Volks(tümlichen)-Liedern
schicke, willt, Liebes, Leides, bin, beides, deinen, quillt.
Die früher mit ursprünglich anderer Intention entstandene zweite Strophe ist dank ihrer Fünfzeiligkeit weniger harmonisch. Als Reimschema begegnet die seltene Folge c-c-d-d-c. Der dunkle, stets betonte Vokal „o“ ist viermal gesetzt und dominiert vor allem die auftaktlosen Verse (wóllest und „Dóch“) und damit die gesamte Strophe mit ihren makellosen daktylischen Versen (nach jeder betonten zwei unbetonte Silben), die als ein typisch antikes Metrum hörbar werden.
Aus all dem folgt, daß es Mörike in der kleinsten Form gelingt, das gewaltige Thema einer Versöhnung antiker und christlicher Weltanschauung anzudeuten: Dem einleitenden Gebet in teils altdeutscher Sprachform und -bedeutung mit seinen gewohnten alternierenden Dreihebern, in dem das mittelalterliche Ideal der „mâze“ anklingt, folgt eine Reflexion in antikem Versmaß, die vielfach die alte Lehre von der aurea mediocritas vermittelt.
Es gibt eine Zeichnung Mörikes, auf der man durch ein riesiges Schlüsselloch im Vordergrund einen winzigen prangenden Hochaltar im Hintergrund erblickt. Seine dichterische Eigenart, die oft in unscheinbar kleinen Formen Blicke auf große Themen freigibt, ist auch im „Gebet“ unverkennbar und geradezu vollkommen realisiert.
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021
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