Hilferuf

von Detlef Färber

Detlef Färber - Foto © Silvio Kison
Hilferuf
 
Auf dem Bürgersteig liegt was: Heller Stoff, beige. Sieht aus wie ein Kuschelkissen. Nein, ein Plüschtier ist es. Ich heb' das Ding auf und setz' es vors nächste Schaufenster. Das Plüschding guckt mich dankbar an. Doch wie das im Leben so ist: Kein Dank ohne sofortige Bitte hinterher. Ich soll in seinem Namen einen Hilferuf absetzen. Na, wenn's weiter nichts ist. Hier kommt er:
 
Liebes Kind,
     ist Dir noch nichts aufgefallen? Gar nix? Gestern in der Kita oder auf dem Nachhauseweg? Oder abends vor dem Einschlafen, beim Schäfchenzählen? Hast Du da nicht was vermißt: mich zum Beispiel, Dein Schaf? Du sitzt jetzt schön daheim in Deiner warmen Stube, und ich muß ich hier draußen in bitterster Kälte zwischen Eis und Schnee ein Abenteuer nach dem andern bestehen: Erst hätte ein Schneeschieber mich um ein Haar weggeschippt und ich wäre fast unter einem Schneeberg gelandet - auf Nimmerwiedersehen. Dann kam ein ganz furchtbarer Pudel, der war drauf und dran, mich zu fressen. Hätte ihn sein Frauchen nicht in letzter Sekunde an der Leine zurückgerissen, als er mir schon an die Schafwolle wollte, wer weiß? Und dann hat sich mir eine gar nicht so kleine und gar nicht so weiße Friedenstaube in gar nicht so friedlicher Absicht genähert. Gerade wollte sie mich anpicken, da gab's hinter ihr plötzlich einen Mordsknall, und das fette graue Monster hat sich mit klatschenden Flügelschlägen aus dem Staub gemacht.
     Trotzdem lag ich bis eben unten auf dem Bürgersteig und auch noch auf dem Bauch: Genauso, wie ich gestern bei Dir, mein Kind, aus dem Sportwagen geflogen bin. Und alle Leute, die vorbeigegangen sind, haben einen Bogen um mich gemacht. Warum? Möglich, daß jeder, der mein weißes Fell sieht, denkt, daß ich ein Eisbär bin. Aber ein ganz tapferer Mann hat schließlich doch in mir das Schäfchen im Bärenpelz erkannt: Und er hat sich ein Herz gefasst und mich hier oben hingesetzt, wo ich nicht mehr einschneie oder nass werde.
     Aber jetzt hock' ich hier und habe ganz trübe Gedanken: Was, wenn Du mich gar nicht verloren, sondern rausgeschmissen hast? Weil Du mich nicht mehr leiden kannst! Warum nicht? Weil ich ein dummes Schaf bin? Und nicht lammfromm? Oder wegen der blöden Schafskälte? Ich schwöre, damit ist Schluß. Dein Schaf schafft jetzt die Wende. Gib mir eine Chance!
     Und damit läßt Dein Lamm das Lamentieren und wartet ganz still- wenn, ja, wenn Du jetzt kommst und mich befreist. Ich bin Dein Schaf, hol mich hier ab!
 
PS: Sonst blüht mir der Friedhof der Kuscheltiere.
 

© Detlef Färber