Nicht gesellschaftsfähig?

Internationale Tagung „Urbane Subkulturen“

von Uwe Blass

Anne-Rose Meyer - Foto © Friederike von Heyden

Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, der Erkenntnisgewinn und das neu generierte Wissen sind kein Selbstzweck, sondern dienen der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Eine zentrale Bedeutung hat dabei der Transfer der Ergebnisse in die Öffentlichkeit, Wirtschaft, Politik und sozialen Institutionen. Mit den „Bergischen Transfergeschichten“ zeigt die Bergische Universität beispielhaft, wie sich Forscherinnen und Forscher mit ihrer Arbeit in die Region einbringen, mit anderen Partnern vernetzen und die Gesellschaft so aktiv mitgestalten.

Nicht gesellschaftsfähig?
 
Internationale Tagung „Urbane Subkulturen“
beschäftigt sich mit der Faszination von Unterwelten

„Autoren und Regisseure machen das Spektrum menschlicher Wünsche, Begierden und Sehnsüchte sichtbar, die nicht mit der jeweiligen gesellschaftlichen Norm übereinstimmen“, sagt Prof. Dr. Anne-Rose Meyer, Literaturwissenschaftlerin und Mitorganisatorin einer internationalen Tagung, die sich vom 07. bis 09. Oktober an der Bergischen Universität unter dem Titel „Urbane Subkulturen“ mit der Faszination subkultureller Phänomene in Literatur und Film des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt.
 
Aber was sind urbane Subkulturen eigentlich? „Qua Begriff zunächst einmal etwas Negatives“, beginnt die Wissenschaftlerin. „Im Deutschen ist – wie auch in anderen Sprachen – Kultur räumlich semantisiert. So unterscheiden wir klar zwischen ´Hochkultur` und ´Subkultur`. Erstere ist irgendwo im Olymp anzusiedeln, dort, wo beispielsweise Goethe, Tschaikowsky, Picasso oder Bernini verortet werden – in für Normalsterbliche unerreichbaren Höhen.“ Das bedeute, Hochkultur sei museumswürdig, werde in den großen Konzertsälen dieser Welt zu Gehör gebracht, auf den Bühnen traditionsreicher Theater dargeboten oder in renommierten Verlagen veröffentlicht. Die Subkultur befinde sich weit, weit darunter, denn Subkulturen seien Lebens- und Verhaltensweisen von Randgruppen. Meyer fährt fort: „In den wachsenden europäischen Großstädten des frühen 20. Jahrhunderts, so auch in Berlin, konnten sie sich in vielfältigen Formen entwickeln und unterschiedliche Lebensstile pflegen, und zwar in deutlicher Abgrenzung von gesellschaftlichen Normen und Tabus, vom Mainstream, wie man heute sagen würde. In der von uns betrachteten Zeit sind Homosexuelle Vertreter der Subkultur, noch nicht arrivierte Künstler, Proletarier, Obdachlose, Süchtige, Prostituierte und Verbrecher.“ Angehörige von Subkulturen hätten ein deutlich schlechteres Ansehen als Schöpfer von Hochkultur oder deren Publikum. Sie stünden damit merklich tiefer auf der sozialen Stufenleiter und besetzten städtische Räume, die bisweilen ganz unten zu finden seien wie das Souterrain, Kellerbars oder die Metro. „Hier ist ein kulturell fruchtbarer Untergrund zu finden, aber auch die kriminelle Unterwelt.“
 
Bad guys und bad girls sind spannend
 
Daß sich die Literatur schon immer mit einzelnen Personen aus Randgruppen beschäftigt hat, kann man in der Weltliteratur leicht feststellen, aber gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmen Schriftsteller und Filmemacher diesen gesellschaftlich nicht akzeptieren Lebenswelten einen breiten Raum. „Bad guys und bad girls sind spannend“, erklärt Meyer, „vermutlich, weil sie maximal weit von unserer eigenen Lebenswelt entfernt sind und neue Perspektiven auf das 20. Jahrhundert bieten. Da geht es uns in der Wissenschaft nicht anders als Millionen von Krimi- und Thrillerfans weltweit. Bestimmte subkulturelle Phänomene kehren wieder, sind also auch in unserer Zeit einflußreich.“ Meyer nennt die sogenannten Heroin chic-Modefotos mit dem damals blassen und hohlwangigen Supermodel Kate Moss aus den 1990er Jahren. Die Aufnahmen lehnen sich scheinbar fließend an solche von der Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber an, die sich 1928 zu Tode kokste. „Das Leben von Drogensüchtigen, Prostituierten, Bohémiens und generell die prekäre Situation der unteren Schichten wurde vom 19. Jahrhundert an literaturwürdig und für breite Kreise interessant. In den Metropolen entwickelten sich spätestens Anfang des 20. Jahrhundert schwul-lesbische Szenen mit entsprechenden Treffpunkten. All dies ist für Geisteswissenschaftler und Kulturhistoriker wichtig, weil wir uns fragen, warum viele subkulturelle Phänomene damals überhaupt so populär geworden sind und es zeitweise Jahrzehnte später wieder werden.“ Eine mögliche Antwort sieht sie daher gerade im Gegensatz, „weil Subkulturen von Normen und Tabus abweichen, weil sie Normen und Tabus aber auch immer wieder bestätigen. Das Aufkommen von Subkulturen gleich welcher Ausprägung hat grundsätzlich immer mit Konflikten zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen zu tun – zwischen Individualität und Konformität beispielsweise, zwischen Hedonismus und Askese, Egoismus und Gemeinsinn, Anpassung und Emanzipation, Tradition und Innovation. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.“ An dieser Stelle beginne dann auch die Aufgabe der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, die aus verschiedenen Blickwinkeln vergangene Lebenswelten erforschten und deren Einfluß auf uns heute vermittelten. „Die bildenden Künste, Musik-, Literatur- und Filmwissenschaften untersuchen, wie unterschiedliche Subkulturen dargestellt wurden und welche Wirkungen ihre künstlerische Gestaltung hatte.“ Besonders das damals noch junge Medium Film böte dabei vielfältige Einblicke von Lebenswirklichkeit für eine breite Diskussion.
 
Babylon Berlin
 
Ein Programmpunkt dieser Tagung beschäftigt sich auch mit der vieldiskutierten Serie Babylon Berlin des Wuppertaler Regisseurs Tom Tykwer. Dazu Meyer: „Babylon Berlin zeigt das Berlin der 1920er Jahre in einer überaus echt wirkenden Weise. Kostüme, Schauplätze, Maske, Geräusche - alles verströmt Charme und Schrecken dieser Zeit. Alle gesellschaftlichen Schichten werden in sorgfältig komponierte Bilder gesetzt, Adel und Großbürgertum ebenso wie Mittel- und Unterschicht, Kommunisten und Nationalsozialisten. Die politische Radikalisierung in der Endphase der „Goldenen Zwanziger“ wird deutlich sichtbar. Elende Arbeiterquartiere und schmierige Bordelle sind ebenso Schauplätze wie Szenebars und palastartige Wohnstätten der Superreichen.“ Diese vielfältigen Aspekte von Subkulturen waren für die Forscherin und ihre Kollegen Wolfgang Lukas und Rüdiger Nutt-Kofoth ein wichtiger Grund, die Serie auf dieser Tagung zum Thema zu machen. „Der Titel ist ja sehr zweideutig: Mit dem Begriff „Babylon“ wird Berlin einerseits als Hort der Sünde und der Dekadenz markiert, als antichristliches Machtzentrum, das mit dem himmlischen Jerusalem kontrastiert, wo alles ganz anders, nämlich gottgefällig, ist. Andererseits wird das Berlin der Zeit durch diese biblischen Bezüge auch mythisiert und stark überhöht“, erklärt Meyer. Die Teilnehmer wollen auch ergründen, inwieweit hier Geschichte in zutreffender Weise gestaltet werde oder ob es sich um die Konstruktion einer eigenen filmischen Realität handele.
 
Unter- und Halbwelten finden Eingang in Weltliteratur
 
Unter- und Halbwelten in Werken von Vicky Baum, Stefan Zweig und Arthur Schnitzler spielen eine besondere Rolle und spiegeln die gesellschaftlichen Bereiche gerade im frühen 20. Jahrhundert. „Wir dürfen nicht vergessen, daß sich die Entwicklung großstädtischen Lebens in Europa erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark beschleunigte. Wir hier in Deutschland metropolisierten uns verstärkt überhaupt erst nach 1918. Die damit verbundenen erweiterten Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen, die sinnlichen Reize urbaner Räume, die fortschreitende Industrialisierung ging mit der Entwicklung von Massenkultur einher“, erklärt Meyer. „Es gab Kinovorführungen in prächtigen Filmpalästen, man besuchte etwa in Berlin eines der zahlreichen Varietés, sah sich Revuen an, hörte Jazzkonzerte, ging zu Sportveranstaltungen in riesigen Stadien. Der überwiegende Teil der Nachkriegsgeneration beschäftigte sich nicht mehr ausschließlich mit Hochkultur.“ So gewannen auch Unter- und Halbwelten an Reiz, ihre Bewohnerinnen und Bewohner bevölkerten die kollektive Phantasie der Frühen Moderne. Meyer fährt fort: „Wir finden diese Gestalten in Literatur und Film wie auch in kulturwissenschaftlichen und sexualanthropologischen Schriften der Zeit, in Sozialreportagen und Sittengeschichten, etwa von Curt Moreck oder Magnus Hirschfeld. Darin wird mit Vorliebe über den stattfindenden Wertewandel in den 1920er Jahren im Bereich Sexualität und Geschlechterrollen berichtet, übrigens auch detailliert über das sogenannte ´Dritte Geschlecht` und Androgynie. Häufig lokalisiert in einem Tiefenraum oder am Rand großstädtischen Treibens, zeigen sich die Halb- und Unterweltler in vielfältigen Gestalten und zeugen von einer bemerkenswerten Faszination der industriellen und urbanen Moderne an ihnen.“ Zwei Autoren, die sich besonders für soziale und auch psychische Abweichungen interessierten, waren die Österreicher Stephan Zweig und Arthur Schnitzler. „Statistisch zählte Wien um 1900 fast zwei Millionen Einwohner. Wirtschaftlich und industriell konnte die Stadt zwar nicht mit Berlin, London, New York oder Paris konkurrieren, aber als Metropole eines Vielvölkerreichs war Wien in besonderer Weise von Extremen geprägt. Eine Mischung aus Deutschen und Ungarn, Galiziern, Bosniern, Tschechen, Juden, Christen, Muslimen, Tagelöhnern, Offizieren, Bettlern, Dienstmädchen, eleganten Damen, reichen Bürgern machte gerade Wiens kosmopolitischen Charakter aus. Und Zweig und Schnitzler wurden nachgerade zu Fachleuten der damit einhergehenden Spannungen und Verlockungen, psychischen Abgründe und geistigen Höhenflüge“, sagt Meyer.
 
Das steigende Interesse am Verbrechen
 
Die Darstellung von Kriminalität spielt in dieser Zeit eine große Rolle. In Filmen von Fritz Lang und Joseph von Sternberg wird das auf der Tagung erklärt. Das Thema fasziniert bis heute. Vielleicht waren diese Filme gewissermaßen die Vorreiter heutiger Krimiserien und Whodunit-Konzepte. Meyer bestätigt: „Der Kriminalfilm war ein sehr populäres Genre, allerdings noch nicht in Gestalt regelrechter Serien, allenfalls gab es Hörspiele im Radio oder gedruckte Fortsetzungsgeschichten. Die berühmteste dürfte wohl die über ´Dr. Mabuse` sein. Der überwältigende Erfolg des ersten Films von Fritz Lang (1922) war ja dann auch ein Anlaß, daß der Luxemburger Norbert Jacques zehn Jahre später einen weiteren Bestseller, ´Das Testament des Dr. Mabuse`, schrieb. Das große Interesse des Publikums am Verbrechen und an Verbrechern wirkte auch auf andere Schriftsteller stimulierend.“
 
Das Spektrum menschlicher Wünsche, Begierden und Sehnsüchte
 
Unterwelten sind Lebenswelten, von denen sich viele Menschen fernhalten und doch am liebsten alles darüber wissen möchten. Meyer formuliert es prägnanter: „‚Unterwelten‘ sind Lebenswelten unter der glatten, genormten Oberfläche der Gesellschaft. Sie repräsentieren all das, was zur Gesellschaft auch gehört, dem wir in unserem wohlgeordneten bürgerlichen Alltag aber selten begegnen. Autoren und Regisseure machen das Spektrum menschlicher Wünsche, Begierden, Sehnsüchte sichtbar, die nicht mit der jeweiligen gesellschaftlichen Norm übereinstimmen.“ ‚Unterwelten‘ seien insofern auf der psychologischen Ebene Ausdruck der Breite menschlicher Wesenseigenschaften, auf der sozialen Ebene Alternativen zu unseren vorgeprägten Gesellschaftsstrukturen. Es handele sich um Gegenentwürfe zu gängigen Lebenskonzepten und vorherrschenden sozialen Schichtungen. „Sie helfen uns, gegebene Ordnungen zu hinterfragen, zu kritisieren und gegebenenfalls auch zu ändern“, sagt Meyer und sie garantierten gleichzeitig Autoren und Filmemachern ein breites Leser- bzw. Publikumsinteresse, denn sie seien das ‚Andere‘, das auch von den Rezipienten als das ‚Interessante‘ und damit das Spannende gesucht würde.
 
Historische Subkulturen in Wuppertal
 
Die Hochschultagung „Urbane Subkulturen in Literatur und Film des frühen 20. Jahrhunderts“ macht sich am Ende mit einer geleiteten Stadtführung auch ein Bild zu Wuppertals Subkulturen und da gibt es nach Meyers Meinung einiges zu entdecken. „Mit einem Blick in die Geschichte kann man unser Wuppertal durchaus als großstädtischen Raum bezeichnen. 1905 zählte es mit den beiden Schwesterstädten Elberfeld und Barmen zu den zehn bevölkerungsreichsten Gebieten im Deutschen Kaiserreich und galt als eines der führenden Textilzentren Europas. Heute firmiert das seit 1929 vereinigte urbane Gebilde Wuppertal als die Metropole des Bergischen Landes. Hier entstand schon um 1901 mit der Schwebebahn nicht nur eins der kühnsten und spektakulärsten städtischen Nahverkehrsmittel. In Elberfeld eröffnete auch der Warenhauspionier Leonhard Tietz schon in den 1880er Jahren seine ersten Ladengeschäfte in Westdeutschland. Von hier aus (und noch vor Köln) revolutionierte er die Welt des Konsums und öffnete sie für die breiten Massen. Das 1912 am Elberfelder Neumarkt eröffnete monumentale Tietz-Warenhaus (heute Kaufhof/Karstadt) wurde zu einem Kristallisationspunkt des modernen, urbanen Lebens.“
Die suburbanen Entwicklungen der Stadt lassen sich nach ihrer Meinung kontinuierlich vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Neuzeit erkennen. „Da gibt es vor 1900 die ersten hier gegründeten Arbeiterorganisationen, aus denen die SPD hervorging und die in den Jahren der berüchtigten Bismarck‘schen „Sozialistengesetze“ unerbittlich verfolgt wurden. In der frühen Weimarer Republik entwickelte Elberfeld sich zum westdeutschen Zentrum antidemokratischer und völkisch-nationaler Bewegungen. Adressbücher der Stadt zeugen von einer regen Szene aus Nachtbars und Clubs, von der sicher auch Wuppertals Halbwelt magisch angezogen gewesen sein dürfte.“
Und nach 1945 wird es noch deutlicher. „An der Hofaue, ehemals einer der bedeutendsten Textilhandelsstandorte in Deutschland, etablierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg Wuppertals Rotlichtviertel“, berichtet sie. „In den 1950er- und 1960er Jahren gehörte Wuppertal zu den Zentren der künstlerischen Avantgarde: Nicht nur die Fluxus- und Happeningkunst, sondern auch der Free Jazz sind mit der Stadt aufs Engste verbunden.“ Jüngere Menschen kennen dagegen meist die Szene der sogenannten Wuppertaler Altstadt. „In der Luisenstraße, im früher so genannten Bermuda-Dreieck zwischen ‚Katzengold‘, ‚Luisencafé‘, ‚Café du Congo‘ und ‚Köhlerliesl‘, verkehrten in den 1980er Jahren alle damals gängigen Jugendmilieus, z.B. Popper, Waver, Punks und Müslis – streng getrennt nach Kneipen mit entsprechender Musik. Daneben hat die Stadt heute zahlreiche migrantische und postmigrantische Subkulturen, ein queeres Zentrum und diverse Künstlerinitiativen. Die Autonome Szene ist hier aktiv, ebenso wie Zionisten, Pietisten, katholische Gesellenvereine, aber auch Salafisten.“
 
Bereichert wird die Tagung durch eine Lesung des Autors Volker Kutscher am 07. Oktober um 19.00 Uhr im Musiksaal der Bergischen Universität. Kutschers Gereon-Rath-Roman-Reihe ist die Vorlage für die Filmserie BABYLON BERLIN.
 
Uwe Blass
 
Prof. Dr. Anne-Rose Meyer studierte Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft, Neuere Germanistik und Romanistik an der Universität Bonn und promovierte ebd. 2000. Meyer habilitierte sich 2009 an der Universität Paderborn. 2018 wird sie zur apl. Professorin an der Bergischen Universität ernannt. Sie lehrt Neuere deutsche Literatur in der Fakultät für Geistes- und Naturwissenschaften ebenda.
 
 
Redaktion: Frank Becker