Der Preis des Menschseins

Lea Kampe – „Der Engel von Warschau“

von Frank Becker

Der Preis des Menschseins
 
Gegen die Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten
 
Unmenschlichkeit, Erbarmungslosigkeit, Machthunger, Zynismus, unfaßbare Hybris, grenzenlose Dummheit und blanke Mordlust – das sind die Charakteristika des deutschen Nationalsozialismus, der in nur 12 Jahren die Welt an den Rand des Abgrundes getrieben und im Zweiten Weltkrieg bis zu 80 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Die ideologisch völlig verblendeten Nazi-Verbrecher brachten dabei in einem hoch organisierten Völker- und Massenmord bis zu 6,3 Millionen deutsche und europäische Juden um, sei es en passant am Straßenrand (man denke z.B. an den Schriftsteller Bruno Schulz) oder in aufwendig geplanten Massenvernichtungslagern, den KZs. Der Angriffskrieg gegen Polen, ein verbrecherischer Überfall, diente den Vasallen Adolf Hitlers zu allererst der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, die mit 3.460.000 einen erheblichen Teil der ca. 12 Millionen zählenden Bevölkerung Polens ausmachte.
 
Die mörderische Walze von Wehrmacht, SS, SD, Gestapo und ihren Hilfsorganisationen überrollte und plünderte das entrechtete Land, dessen hilflos schwache Armee dem nichts entgegenzustellen hatte. Die Militärführung setzte sich nach England ab, um dort eine Exil-Armee aufzubauen, der verbleibende polnische Widerstand ging in den Untergrund, während der von den Nazis eingesetzte Gouverneur des „Generalgouvernements“ Hans Michael Frank und sein Zögling Ludwig Fischer als Gouverneur von Warschau ein erbarmungsloses Regiment aufbauten. Polnische Juden, die nicht rechtzeitig hatten fliehen können, wurden wie ihre Glaubensbrüder in Deutschland erst mit dem Judenstern stigmatisiert, dann aller bürgerlichen Rechte und Berufsausübungen beraubt, dann wirtschaftlich ausgeplündert. Hier nun setzt die Geschichte Irena Sendlers (1910-2008) an, einer Mitarbeiterin des Warschauer Sozialamtes, die dem nicht tatenlos zusehen konnte und eine mutige Gruppe von überwiegend Frauen um sich scharte, die tatkräftig ihren gepeinigten Mitbürgern mit Geld, Nahrung, Verstecken und falschen Papieren halfen. Vor allem Kindern bis hinunter zum Säugling verschafften sie falsche Identitäten, um sie in polnischen Waisenhäusern unterzubringen. Auch mit dem Waisenhaus-Leiter Janusz Korczak (1878-1942), der zum schrecklichen Ende freiwillig mit seinen Schutzbefohlenen im KZ starb, arbeiteten sie häufig zusammen.
 
Als die verbliebene jüdische Bevölkerung 1940 schließlich in hermetisch abgeriegelte Ghettos gepfercht wurde, in denen das Leben nur noch täglicher Kampf ums Überleben war und nach und nach Erwachsene, erst Männer, dann Frauen zu „Arbeitseinsätzen“ ohne Rückkehr entführt und Kinder dem Tod durch Krankheit und Verhungern preisgegeben wurden, geriet die Mission Irena Sendlers und ihrer Mitverschwörerinnen und Helfer auch für sie zum täglichen Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, denn auf ihre Hilfsaktionen für die Kinder aus dem Ghetto, bei denen sie ihr Leben riskierten, stand die durch Erschießung. Kinder wurden durch Mauerschlupflöcher und die Kanalisation aus dem Ghetto gebracht, Säuglinge am Körper oder in versteckten Taschen durch Kontrollen geschmuggelt, notleidende Ghetto-Bewohner mit verbotenem Essen und polnischen Geburtsurkunden versorgt. Daß die Menschen bis zum Beginn des Warschauer Ghetto-Aufstandes am 19. April 1943 die Unterdrückung widerstandslos hinnahmen, gehört zu den psychologischen Phänomenen, die Diktaturen ihre Gewaltherrschaft ermöglichen.
 
Die Schriftstellerin Lea Kampe (d.i. Iris Claere Mueller) hat Irena Sendlers mutige und entschlossene Geschichte zu einem bewegenden Roman verarbeitet, der sich eng an die historischen Vorlagen hält. Es gelingt ihr, von den gräßlichen Verbrechen der Deutschen und den Schicksalen ihrer polnischen Opfer so einfühlsam zu erzählen, daß ohne Larmoyanz, Haß oder Polemik für den Leser ein wahrhaftes Bild dieser dunklen Zeit entsteht, das hilft, all das Geschehene zu begreifen. Es ist schwere Kost, aber so brillant geschrieben, daß man das Buch nicht aus der Hand legen kann. Viele der Mitstreiterinnen von Irena Sendler kamen durch die Deutschen ums Leben. Irena Sendler überlebte und wurde im Jahr 1965 von Yad Vashem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Lea Kampe ehrt nun mit ihrem engagierten Tatsachen-Roman Irena Sendler und ihre Freunde Irka Schultz, Ala Golab-Grynberg, Adam Celnikier, Rachela Rosenthal, Ewa Rechtmann und Julian Grobelny stellvertretend für alle, die sich während der Nazi-Zeit für Unterdrückte eingesetzt haben, ein weiteres Mal.
Von den Musenblättern zur Lektüre empfohlen und mit unserem Prädikat, dem Musenkuß ausgezeichnet.
 
Lea Kampe – „Der Engel von Warschau“
© 2021 Piper Verlag, 430 Seiten, Klappenbroschur – ISBN: 978-3-492-06215-2
12,99 €
 
Weitere Informationen: www.piper.de