Kostbare Dokumente seiner Epoche

Ruth Rieser: „Auslegung der Wirklichkeit - Georg Stefan Troller“

von Renate Wagner

Auslegung der Wirklichkeit
Georg Stefan Troller

Dokumentarfilm / Östereich 2021
Regie: Ruth Rieser
 
Daß Menschen hundert Jahre alt werden, liest man in unseren Tagen immer öfter. Dann kommt der Bürgermeister mit einem Blumenstrauß, und man wundert sich ein bißchen, was die betreffende Persönlichkeit wohl alles erlebt hat – und fragt ja doch nicht weiter nach. Aber wenn ein Mann wie Georg Stefan Troller heute, am 10. Dezember 2021 hundert Jahre alt wird, und das in völliger geistiger Frische, dann hat er etwas zu erzählen – das war schon sein Vorsatz als „dichtender“ Junge in Wien, und das hat er im Lauf eines langen Lebens durchgeführt.
 
Er lebt noch heute, geboren in Wien, emigriert in die USA, nach dem Krieg zurückgekehrt nach Europa, ansässig in Paris, obwohl er, wenn er Pech gehabt hätte wie jene 19 Mitglieder seiner Familie, die in Konzentrationslagern umgekommen sind, eigentlich von den Nazis nicht zum Überleben bestimmt gewesen wäre.
Es ist viel zu erzählen von diesem Leben, und Filmemacherin Ruth Rieser, die zu dieser großen dokumentarischen Würdigung (immerhin zwei Stunden lang) aufgebrochen ist, tut es in vielfältigster Weise.
Zu Beginn das Berufliche, über die Leistung des Mannes, der wohl der König des Fernsehinterviews war – da prasseln die Fragen nur so über den Betrachter herein, Tausende und Abertausende hat er in seinem Leben gestellt, bevor man sich bei Troller selbst einfindet, der Ruth Rieser in langen Gesprächen Rede und Antwort stand.
In dieser langen Anfangspassage des Films gibt es, faszinierend, Beispiele aus seinen Gesprächen – viele hat man, so man sie nicht gesehen hat, in seinen Büchern nachgelesen, aber es ist doch besonders, diese Gesichter zu sehen: Somerset Maugham und Catherine Deneuve, Edith Piaf, Juliette Greco oder Liv Ullman, Anais Nin. Agnes Varda oder (besonders ergreifend) die Schwester von Egon Friedell, die (damals) ihrer Delogierung entgegen sieht…
Troller erzählt von seinem ganz persönlichem Umgang mit und dem Zugang zu den Menschen, mit denen er gesprochen hat, und manche scheinen sich nachher, wie nach einer Psychoanalyse, befreit und besser gefühlt zu haben. Nie hat er oberflächlichen Promi-Talk geliefert, immer ist er in die Tiefe gegangen.
 
Es gibt dann auch „Ausflüge“ mit Georg Stefan Troller, der in seiner milden Altherrenweisheit so sehr an den großen George Tabori erinnert – nach Dachau, an das er schmerzliche Erinnerungen hat, die er ohne Pathos schlicht berichtet, wie er überhaupt nie eitlen Wirbel um seine Person macht. Als er nach dem Krieg nach Dachau kam und die Amerikaner den Deutschen zeigten, was da passiert war, stellte er nur fest: „Nicht einer hat sich schuldig gefühlt.“ Sie waren nur empört, daß man sie zwang, das anzusehen. Troller ist nicht empört, über gar nichts. Nach allem, was er erleben mußte und was er dann doch noch aus seinem Leben gemacht hat, kann da nur noch die große Gelassenheit walten, die diesen Film so wunderbar durchzieht.
In Wien begab sich Ruth Rieser mit Troller in die Wohnung, wo er mit seiner Familie 1936 gewohnt hat und aus der sie alle nach dem Anschluß vertrieben worden waren. Man kann sich kaum vorstellen, daß er bis zu seinem 99. Lebensjahr gewartet hat, um diesen Besuch zu unternehmen – und um in der Wohnung den Bücherschrank seiner Familie zu entdecken, noch jene Bücher darin, die er zu seiner Bar Mizwa geschenkt bekam, und wo er und sein Bruder das Brett zur Abteilung des verschlossenen väterlichen Teils des Schranks herausnahmen, um sich die „Fackel“ von Karl Kraus zu Gemüte zu führen. Die Frau, die in der Wohnung lebt und Troller freundlich hinein ließ, glaubt übrigens fest, daß der Bücherschrank von ihren Eltern stammt. Er hat sie nicht auf ihren Irrtum hingewiesen.
Was er über Ausgrenzung als Jude (Schulfreunde, die ihn nach dem Anschluß nicht mehr kennen wollen und die Straßenseite wechselten) und als Emigrant (sich eine neue Sprache und eine neue Welt erobern) zu sagen hat, schürft tiefer als viele belehrende Brandreden zu dem Thema. Melancholisch wird es, wenn er mit Robert Schindel  über den Zentralfriedhof zum Grab seines Vaters geht – und erzählt, daß sein eigenes Begräbnis und Grab schon am Friedhof Montmartre auf ihn warten…
 
Troller, der im Gespräch immer wieder liebevoll seine Katze streichelt, gibt an, daß er im Jenseits vermutlich danach gefragt werden wird, ob er genug Liebe empfunden und gegeben hat. Aber auf seine Arbeit ist er doch stolz. Da möchte er später „von drüben“ noch einmal auf unsere Welt schauen, um zu sehen, was aus seinem Werk – 170 Filme, 20 Bücher – geworden ist.
Man möchte ihm versichern: Sie werden, als kostbare Dokumente ihrer Epoche, bleiben. So wie dieser Film, der ihm ein Denkmal setzt.
 
 
Renate Wagner