Ein ganzes Leben
Die Notiz- und Tagebücher von Patricia Highsmith
Ist es indiskret, die Tagebücher eines fremden Menschen zu lesen? Gemeinhin schon, doch wenn diejenige, um die es hier geht, es zu ihrem Lebensplan gezählt hat, daß die Nachwelt nach ihrem Tod diese Aufzeichnungen zu Gesicht bekomme, dann sicher nicht. Und es ist ein großes Glück, daß man nun über ihre umfangreichen Notiz- und Tagebücher Zugang zu Leben, Denken und Fühlen der einzigartigen Schriftstellerin Patricia Highsmith (1921-1995) bekommen kann.
„Soviel Patricia Highsmith geschrieben hat, eines hat sie immer ausgeklammert: sich selbst. Deshalb war es eine Sensation, als nach ihrem Tod 1995 in ihrem Wäscheschrank 18 Tage- und 38 Notizbücher gefunden wurden, die sie nahtlos seit ihrer College-Zeit geführt hatte. Eine Frau, die um die halbe Welt reiste, mindestens zwei Leben gleichzeitig führte und aus einer kühlen Halbdistanz psychologische Romane über elementare Themen schrieb wie Liebe, Fremdsein und Mord“, schreibt der Verlag zu dem 1376 Seiten umfassenden ungemein mitnehmenden Buch, das doch nur eine Auswahl aus dem enormen Kompendium ihrer Lebensaufzeichnungen ist.
Die Anglistin, Germanistin und Romanistin Anna von Planta (*1957), die seit 1984 als Lektorin für Belletristik beim Diogenes Verlag in Zürich tätig ist, hat die enorme Aufgabe übernommen, die gewaltige Flut an handschriftlichen Dokumenten in jahrelanger Arbeit (in Zusammenarbeit mit Friederike Kohl, Kati Hertzsch, Marie Hesse und Marion Hertle) zu sichten und der Leserin die Welt der Patricia Highsmith, die ihre Aufzeichnungen wechselnd auf Deutsch, Englisch und Französisch machte, zu öffnen. Sie erreicht die Leserin mit ihrer in Fußnoten zurückhaltend erläuterten Auswahl ohne Umschweife. So eben, wie Patricia Highsmith von Anfang an gelebt hat. Direkt und zielstrebig. Man taucht ohne Verzug und voller Spannung in dieses aufregende, sich vornehmlich unter Kulturschaffenden und liebenden Frauen abspielende Leben mit unmittelbarer Sympathie für „Pat“ und ihre Affären ein. Ihre Lebensstationen in Amerika, England, Frankreich und der Schweiz, ihre langen Reisen durch Europa, ihre Bücher und Freundschaften und ihre große Liebe Caroline werden plastisch. Man ist beim Werden und Vergehen, bei Liebe und Verlust unmittelbar dabei.
1941, kurz vor Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, beginnt ihr erstes Tagebuch, beginnt der Lebensbogen, den wir von da an nahtlos mitgehen können. Wir lernen die hübsche Pat (ihr einziges Foto schmückt den Schutzumschlag) als eine attraktive, von Frauen wie Männern umschwärmte 20-jährige Collegestudentin in New York kennen, die keine Liebschaft und keinen Drink ausläßt und mit den Menschen, vornehmlich den Frauen spielt, wohl aber echte Freundschaften zu Männern gelten läßt. Sie war und blieb eine große Liebende, eine unersättliche Leserin (kaum zu fassen, was sie unentwegt verschlang), eine Kunstfreundin und eine besessen schreibende Autorin, die ihre Erfolge, mal gespeist aus der Liebe, mal aus der Einsamkeit, redlich verdiente. Eine Frau, „die sich vom Schreiben und nur vom Schreiben ernähren will, kaum schläft und mehrere Leben gleichzeitig lebt. Zu Hause in der New Yorker Bohème und unter der künstlerischen Avantgarde, bricht sie mit 28 voller Hoffnung zu einem nomadischen Leben in Europa auf – wo sie (dank Alfred Hitchcocks Verfilmung ihres Erstlings ›Zwei Fremde im Zug‹) bald zum gefeierten Star wird.“ (Verlagstext)
Ihre Beobachtungen von Menschen und Lebenssituationen, ihre beinahe täglichen Aufzeichnungen zeichnen ein Bild ihrer Zeit. Weltbereist, polyglott und überaus erfolgreich zu sein, verschaffte Patricia Highsmith aber nicht das erhoffte dauerhafte Lebensglück. Bis zum Tod der Kettenraucherin 1995 in der Schweiz hat ihre Suche angedauert. „Zuletzt spricht aus den Seiten eine oft bittere, aber wache Frau, die von wenigen Freunden sowie ihren Schnecken und Katzen umgeben in ihrer Tessiner Festung gegen das Kranksein und das Schwinden ihrer Kräfte anschreibt.“
Ich bin fast sicher, daß zahlreiche Leserinnen und Leser sich selbst in Patricia Highsmiths Tage- und Notizbüchern wiederfinden, hat sie doch mit klarem Blick über Emotionen und Erfahrungen geschrieben, wie viele von uns sie in ihrer Lebensspanne durchleben. Ein wunderbares, wie ich finde unverzichtbares Buch, das unsere Auszeichnung verdient, den Musenkuß* (mit Sternchen).
Patricia Highsmith - Tage- und Notizbücher
Hrsg. von Anna von Planta
Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz, pociao, Anna-Nina Kroll, Marion Hertle und Peter Torberg – Nachwort von Joan Schenkar
© 2021 Diogenes Verlag, 1376 Seiten, Ganzleinen, Anmerkungen, Auswahlbibliographie, Filmographie, Personen- und Werkregister - ISBN: 978-3-257-07147-4
32,- € / 42,- sFr Weitere Informationen: www.diogenes.ch
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