„Davon glaube ich kein Wort!“

Ludwig Boltzmann in der Anekdote (1)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer

„Davon glaube ich kein Wort!“

Ludwig Boltzmann in der Anekdote

Von Ernst Peter Fischer
 

Wiener Wurzeln

Ludwig Boltzmann (1)
 
Was die Grundlagen der physikalischen Wissenschaft angeht, so lassen sich Lise Meitner und Max Planck auch über den Namen des österreichischen Theoretikers Ludwig Boltzmann miteinander verbinden, der zum allgemeinen Entsetzen seiner Fangemeinde im Jahre 1906 im Verlauf eines Ferienaufenthalts in Duino bei Triest Selbstmord begangen hat, was konkret bedeutete, daß die junge Lise Meitner vergeblich in Wien auf ihn und seine Vorlesungen wartete, von denen alle Studierenden schwärmten. Natürlich haben medizinisch orientierte Menschen eine schwere Depression als Grund für Boltzmanns Handlung genannt, aber der Philosoph Karl Popper hat zudem versucht, deren Entstehen tiefer verständlich zu machen und dabei ein erstaunliches physikalisch-philosophisches Argument ausgemacht.
       Boltzmann hatte sich vor seinem Freitod viele Jahre mit dem Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre beschäftigt, der auch das Thema von Plancks Doktorarbeit werden sollte. In ihm taucht eine Größe namens Entropie auf, von der behauptet wird, daß sie nur eine Richtung kennt, nämlich zuzunehmen, so wie es die Unordnung in einem Zimmer tut, in dem niemand aufräumt. Boltzmann setzte seine ganze mathematische Kraft ein, um im Rahmen der großartigen klassischen Physik eine objektive Begründung für diese Richtung zu finden, die auch für den Pfeil der Zeit gilt und ihm keinen Rückwärtsgang erlaubt. Sie mußte etwa mit statistischen Überlegungen zu schaffen haben, die auftreten, wenn viele Teilchen miteinander in Wechselwirkung geraten, denn ein einzelnes Objekt kann vorwärts und rückwärts laufen, ohne eine Zeitrichtung zu bevorzugen.
       Trotz aller theoretischen und mathematischen Anstrengungen – zuletzt mußte Boltzmann resigniert einräumen, daß es „für das Weltall als Ganzes keine Unterscheidung zwischen Rückwärts- und Vorwärts-Richtungen der Zeit“ gibt. Sie bestünde nur „für die Welten, in denen Lebewesen existierten“, was sich zwar spannend und geheimnisvoll anhört, für Boltzmann aber eine Katastrophe bedeutete – jedenfalls in der Sicht des Philosophen Popper, eines österreichischen Landsmannes. Denn mit diesem Argument öffnete der Wiener Physiker die Tür zu einer subjektiven Physik, da die Richtung der Zeit von real existierenden Beobachtern abhängig wurde und das Ideal der Objektivität verloren ging. Und wenn man sich inzwischen im Rahmen der Quantenmechanik und anderer Entwicklungen der Wissenschaft auch daran gewöhnt hat, daß das Ziel einer rein gegenständlichen Wissenschaft, die eine Welt ohne ein sie beobachtendes Ich beschreibt, nicht zu erreichen ist, muß dieser Gedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Boltzmann unerträglich gewesen sein, „und mit dieser Einsicht mag seine Depression und sein Selbstmord zusammenhängen“, wie Karl Popper zum Ende seines eigenen Lebens geschrieben hat. Physik kann man nur gut machen, wenn man dabei sein Leben aufs Spiel setzt, wie ein anderer Wiener gemeint hat, der bereits vorgestellte Wolfgang Pauli, und Boltzmann hat so gehandelt.
       Übrigens – an dem grundlegenden Problem, wie die Zeit in der Physik ihre Richtung bekommt, sind im Laufe der kommenden Jahrzehnte mehrere große Physiker gescheitert, was den amerikanischen Physiker David Goldstein in den 1970er Jahren dazu gebracht hat, sein Lehrbuch über „States of Matter“ mit der folgenden Warnung zu beginnen:
       „Ludwig Boltzmann, der einen großen Teil seines Lebens der statistischen Mechanik widmete, starb 1906 von eigener Hand. Paul Ehrenfest, der seine Arbeit fortsetzte, starb 1933 unter ähnlichen Umständen. Nun sind wir an der Reihe, uns der statistischen Mechanik anzunehmen. Vielleicht ist es eine gute Idee, vorsichtig an die Sache heranzugehen.“
       Wie dem auch sei: Man darf sich Boltzmann auf keinen Fall als melancholischen Mann vorstellen und sollte in ihm eher einen leidenschaftlichen Vertreter seiner Wissenschaft sehen, die er bei jeder Gelegenheit auch unterhaltsam ins Spiel bringen konnte. Als er einmal eher gelangweilt bei einem Dinner saß und zum Nachtisch ein Wackelpudding serviert wurde, bot Boltzmann seinen Tischnachbarn an, ihnen zu zeigen, daß sie da den einzigen festen Körper vor Augen hatten, an dem sich sichtbare Longitudinalwellen erzeugen lassen. Leider wollte keiner der Gäste darüber etwas erfahren, und so mußte der gute Mann auf eine Demonstration der Wackelei verzichten.

© Ernst Peter Fischer