Zum 150. Geburtstag von Alexander Skrjabin
Es war Mitte der 1990er Jahre, als ich in Moskau war und mir die Literaturmuseen der Stadt angeschaut habe, die zu Puschkin, Tolstoi, Ostrowski, Gorki, Majakowski. Plötzlich stand ich in einer Nebenstraße des Arbat, des Boulevard principal der Stadt, vor einem Haus, an dessen Fassade in Kyrillisch zu lesen war: „Skrijabin-Museum“. Das war nicht das Haus eines Dichters, sondern eines Komponisten, von dem ich nur das „Poème de l'exstase“ kannte, ein furioses Orchesterwerk. Wir stießen die Tür des Museums auf. Die Frau an der Kasse schrak hoch, als hätten wir sie aus dem Schlaf geholt. Sie staunte uns an, fragte sich wohl, was wir hier wollten. Sie rief laut, nein nicht um Hilfe, zwei weitere Frauen schlurften in Pantoffeln hinzu, indes in Eile, und schauten uns ebenso erstaunt an als wären wir Phantome. Ich legte einige Kopeken auf den Kassentisch, da wurde ihnen wohl klar, wir wollten das Museum für Skrjabin anschauen. Die Kassiererin gab uns hübsche Eintrittsbillets und mit diesen traten wir ein. Eine der beiden Frauen versteckte ihr Frühstück, das war es wohl, hinter der Gardine auf einer Fensterbank, lief aufgeregt eine Treppe hoch, rief etwas, was wir des Russischen unkundig, nicht verstanden. Wenig später kam ein Herr mittleren Alters in beigem, verknittertem Anzug hinunter, begrüßte uns mit Handschlag, stellte sich als Direktor des Museum vor und meinte in einem kuriosen, altmodisch klingendem Französisch, wir wären die ersten Gäste des Museums seit Wochen. Die Moskauer hätten nunmehr andere Sorgen, sie wollten nicht verpassen, zu erhaschen, was es im GUM Neues zu Kaufen gab, das es bislang nicht gab. Seitdem ginge niemand mehr ins Museum. Der Direktor führte uns durch die Räume einer bürgerlich gediegenen idyllischen Wohnwelt, in der Skrjabin die letzten drei Lebensjahre vor seinem plötzlichen Tod verbracht habe. Vollgestopft mit Möbeln, Schränken, Stehpulten, einem schmalen Bett, Bildern. Über allem hingen Kronleuchter traurig herab.
Im großen Salon setzte sich der Direktor an den Flügel und spielte. „Vers la Flamme“ sagte er noch, so heiße das Stück von vielleicht sechs Minuten. Der Flügel war rot lackiert. So sagt mir meine Erinnerung, die aber vielleicht eine Sinnestäuschung war, denn der Flügel, der dort nun steht, was ein Photo zeigt, ist ein schwarzer Bechstein, auf dem der Meister selbst gespielt haben soll, nun sein „Stellvertreter“, der Direktor des Museums, der sich am Ende der „Flamme“ vor uns verbeugte. Schwarz oder doch rot? Das ist aber nun meine immer wiederkehrende Frage. Skrjabin war nämlich neben Erik Satie der verrückteste Komponist der Musikgeschichte, positiv verrückt natürlich. Der Direktor des Museums, dessen Namen ich vergessen habe, führte uns noch zu einem Lichtklavier. Dieser Apparat produzierte nicht nur Töne, sondern dazu auch Farben. Der Komponist hörte in seinem Mystizismus nämlich selbst auch Farben als Klang. Warum also nicht doch das rote Klavier? Satie hatte, so ist es in seinem Museum in Honfleur zu sehen, auch ein Piano in Form einer Birne. Das Klavier, das ich in Moskau gesehen habe, war rot! Das bin ich Skrjabin schuldig.
© 2022 Jörg Aufenanger
|