„Michael.Angelus.Bonarotus.Florentinus.faciebat“

Horst Bredekamp – „Michelangelo“

von Johannes Vesper

„Michael.Angelus.Bonarotus.Florentinus.faciebat“
 
Michelangelo von Horst Bredekamp

Von Johannes Vesper
 
Michelangelo Buonarroti, geboren 1475, hochbetagt gestorben 1564, befreite seine Skulpturen aus Marmorblöcken und schrieb dazu „Auch der beste Künstler hat kein Konzept/, das ein Marmor nicht allein bereits in sich umschreibt / in seiner Hülle, und zu ihm gelangt / allein jene Hand, die dem Geist gehorcht“, die versuchsweise, „tentativ“, quasi spielerisch die Skulptur aus dem Stein herausarbeitet, selbst wenn dieser schon von anderen zuvor ruiniert worden war (wie beim berühmten David in Florenz). Dabei vollendete er seine Skulpturen nicht immer konsequent, in dem Bearbeitungsspuren bleiben sichtbar blieben oder die Figur nicht vollständig aus dem Marmor herausgelöst wurde. 
 
Bedeutendster Bildhauer der Nachantike
 
Mit 14 Jahren begann er als Bildhauer und war als Künstler fast ununterbrochen bis zu seinem Tode tätig. Seine Zeichnungen, seine Malerei, seine Skulpturen, seine Architektur und seine Dichtung sind noch heute nach mehr als 600 Jahren von kaum zu übertreffender Frische, Präsenz und Faszination. Mit 24 Jahren schuf er seine römische Pieta, mit der er „zum bedeutendsten Bildhauer der Nachantike“ avancierte. Als 18-jähriger hatte er begonnen die menschliche Anatomie zu studieren und zahlreiche Leichen seziert, die er aus dem Kloster St. Spirito in Florenz bekommen hatte, bei dem er sich mit einem Kruzifix für den Hochaltar bedankt hatte. In Italien war die Seziertechnik nicht unbekannt, war es doch bereits seit 1241 gesetzlich festgelegt, daß zwar nicht angehende Bildhauer aber immerhin angehende Chirurgen mindestens ein Jahr lang an Leichen üben sollten.
 

Steinbrüche in Carrara - Buch, Seite 169
 
Ganz Carrara in eine riesige Skulptur zu verwandeln, davon hat er tatsächlich geträumt und keinen Mangel an Selbstbewußtsein verspürt, hat er doch seine römische Pietá zwischen den Brüsten der Mutter Gottes signiert (siehe Zitat Überschrift), die, so jung und erotisch dargestellt wie ihr toter Sohn, eher Braut als Mutter zu sein scheint. Kritiker damals hofften, daß „ähnliche Götzenbilder zu Boden geschmettert“ würden, was 413 Jahre später (1972) tatsächlich geschah. In klarer, eleganter Sprache bündelt Horst Bredekamp, Ordinarius für Kunst und Bildgeschichte der Berliner Humboldt-Universität, auf 811 Seiten Biographie, Kunstwerke, Lebensverhältnisse und Psychologie, durchdenkt den riesigen Werkkreis Michelangelos neu“, analysierte dessen Wirkung auf sein Jahrhundert, auf sein Verhältnis zum Auftraggeber und Künstler also auf die Kunstsoziologie der Zeit. Ein wahrhaft komplexes Unternehmen. Während Jacob Burckhardt die künstlerische Freiheit, Michelangelos und seine Subjektivität als künstlerisches Element der bildenden Kunst überhaupt, kritisch sah, schätzte der Philosoph Georg Simmel „den einsamen Titanen“ und seine „Spannung zwischen Geist und Materie“. Für Horst Bredekamp jedenfalls gehört die „Freiheit von Konventionen“ zum Wesen Michelangelos und seiner Werke, was u.a. mit der originellen Fassade von 1516 der kleinen päpstlichen Privatkapelle  in der Engelsburg belegt wird. Hier wurden seine architektonischen Vorstellungen erstmalig deutlich, die sich vergrößerten bis hin zur Medici Kapelle, zur Biblioteca Laurenziana, zum römischen Kapitol, zum Palazzo Farnese, zu St. Peter oder zu der rätselhaften Porta Pia.  
 

Fassade Privatkapelle Leo X., Engelsburg, Buch, Seite 314
 
il Terribile
 
Und der Auftraggeber, Papst Leo X., war davon so fasziniert, daß er ihn sogleich mit der großen Fassade von St. Lorenzo in Florenz beauftragte, die allerdings nie ausgeführt wurde. In den Querelen um diesen Auftrag legte sich Michelangelo halsstarrig mit allen an, um seine Ideen bezüglich Marmors und Fassadengestaltung durchzusetzen. Diese Auseinandersetzung in den Jahren 1516-20 führte dazu, daß man ihn den „Schrecklichen“ (il terribile) nannte. Kollegen warfen ihm massiv Eigennutz und Egoismus vor. Seine Ideen „ohne jede Grenzbeschränkung auszuführen und umzusetzen war aber ein Gebot der Form“ und wohl nicht eines schwierigen Charakters.  Zwei Jahre bereitete er diesen Bauauftrag vor und befestigte erstmal sozusagen als Tiefbauer die Transportwege für die Marmorblöcke aus Seravezza und Carrara, legte dazu Sümpfe trocken, um endlich zu er erfahren, daß Leo X. den Vertrag gekündigt hatte.
 
Voller Sarkasmus schrieb er, seine eigene Arbeit werde er nicht in Rechnung stellen, den erhaltenden Vorschuß aber mit den bereits angelieferten Marmorblöcken verrechnen, die der Papst behalten möge, „auf daß ich frei sei“. Solche Konflikte mit dem Auftraggeber hatte es schon zuvor beim Ausmalen der Sistina gegeben, aber auch Julius II. hatte ihm schon zugestanden, er könne malen was er wolle. Seine Autonomie gegenüber dem Auftraggeber hat er nie wieder aufgegeben. Dabei konnte er sich vor Aufträgen oft nicht retten. Welche starke Künstlerposition!              
 
Leiblichkeit
 
Was war Michelangelo für ein Mensch? Vom Vater wegen seiner unbändigen Lust zu Zeichnen mit Prügeln bedacht, hatte er Schwierigkeiten auf der Lateinschule und ging in die Lehre bei dem großen florentinischen Maler Ghirlandaio. Wegen seiner schnell auch für Lorenzo de Medici erkennbaren Begabung für die Bildhauerei, fing er sich von einem neidischen Mitschüler einen derartigen Faustschlag auf die Nase ein, daß die gebrochene Nase das Gesicht lebenslang gekennzeichnet hat. Bald erfolgreich, am Lebensende sogar sehr vermögend, litt er nie unter Geldmangel, konnte in seinen stets geräumigen Häusern in Rom oder Florenz große Marmorblöcke wie auch sein Pferd in eigenem Stalle unterbringen. Fast täglich ritt er bis ins hohe Alter aus, meist vor dem Abendbrot, um körperlich fit zu bleiben. Über seine „private Form der Geselligkeit“ - Bredekamp spricht von Michelangelos Sexualität - ist wenig bekannt. Anscheinend hat er sie „in derselben moderaten Weise geübt wie das Essen“. Man glaubte damals, daß seltener Koitus lebensverlängernd wirke. Einer Einkaufsliste vom 18.03.1518 ist zu entnehmen, daß Brot, vollmundiger und trockener Wein, Hering, Fleischpasteten, Salat, Spinat, Sardellen, Fenchelsuppen,  gelegentlich auch mal ein fetter Karpfen oder Florentiner Spezialitäten zum „moderaten“ Speiseplan gehörten. Homosexuelle Erlebnisse und „griechische Praktiken“ gehörten um 1500 wahrscheinlich zur Sozialisierung und Persönlichkeitsbildung junger Männer dazu. Michelangelo hat aber das Angebot eines Florentiners, dessen Sohn als Lehrling anzunehmen und ihn für das Bett einzufangen, nicht angenommen.
 
„Noli me tangere“?
 
Daß er von Frauen immer sehr angetan war, ist seinen Gedichten zu entnehmen. Die Begriffe „proteischer Eros“ und „Panempathie“ werden zur Interpretation verschiedener Werke herangezogen. Zur schönen, hochgebildeten Gräfin Vittoria Colonna hatte Michelangelo ein besonderes Verhältnis. Zahlreiche Sonette hatte sie für ihn geschrieben und ihn beauftragt, für sie ein Bild der großen Sünderin Maria Magdalena zu malen. Auf diesem Bild berührt Christus mit den Fingern seiner rechten Hand deren linke Brust. In wieweit der Begriff des „Noli me tangere“ (Bildtitel) die beiden und ihr Verhältnis bestimmt hat, bleibt unklar.    
 
Vom Einfluß der Sexualität und Nöte Michelangelos auf sein bildnerisches Werk zeugt möglicherweise auch die teilweise Zerstörung der florentinischen Pieta durch ihn selbst im Alter von 80 Jahren (1855). Seine eigene Darstellung der vom toten Christus umarmten Magdalena, deren Hand ihrerseits Christi Oberschenkel berührt, der Hand Marias an Christi linker Brust, endlich der Überschlag des linken Beines Christi über das linke Bein Mariens, welche Position in der Bildsprache dieser Zeit Liebespaare beim Vorspiel einnahmen, hat ihn möglicherweise mit sich selbst in einer Weise konfrontiert, die ihm unerträglich schien. Wieweit Skulptur und Psyche mit einander korrespondieren, darüber hat immerhin auch Sigmund Freud nachgedacht („Der Moses des Michelangelo“). der insbesondere die Details von Fingern und Hände der Skulpturen seiner Betrachtung unterzogen hatte und „hier den Beweis sah, daß kunsthistorische Formkritik und Psychoanalyse als Schwestermethoden anzusehen seien“.  


  Sigmund Freud mit dem Gefangenen, Buch, Seite 302


Auch die mehrfache Vernichtung und Zerstörung seiner Zeichnungen (cartoni) geben Rätsel auf. 1517 nach seinem Umzug nach Florenz ließ er seine römischen cartoni verbrennen (22,4) und nach seinem Tode fand man in seinem Hause nur zehn Zeichnungen. Kurz zuvor hatte nochmal eine Vernichtungsaktion stattgefunden.
 
„Je vollkommener desto mehr Schmerzen“ Sixtinische Kapelle
 
Seine eigene Psyche hat Michelangelo wahrscheinlich explizit bei der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle ins Bild gesetzt (1508-1512). Die gequälten, gefangenen Gestalten metallischen Charakters über den Stichkappen der Decke entsprechen seiner eigenen gequälten Psyche bei der selbstquälerischen körperlich sehr belastenden Arbeit an diesem riesigen Werk.).
 

Sixtinische Kapelle, Bronzewesen, Buch, Seite 237
 
Brieflich schilderte er seine tiefe körperlicher Erschöpfung über das Malen in Zwangshaltung ständig über Kopf, wenn es „dem Pinsel über dem Gesicht gefällt, spielerisch ein reiches Mosaik zu klecksen“.  Außerdem sei die Freskomalerei, obwohl bei Ghirlandaio in der Lehrzeit gelernt, nicht sein eigentliches Metier. Und dann begannen auch noch bereits fertiggestellte Gemälde auf der Wand an zu schimmeln, was aber nicht an falscher Maltechnik, sondern an ungeeigneter Grundierung lag und korrigiert werden konnte. Freudlosigkeit und Vereinsamung drohten. Kündigte sich hier bereits eine zehn Jahre später tatsächlich aufgetretene Arbeitsstörung an?
 
Die 20 Ignudi dagegen schweben in „idealer ungetrübter Existenz“ und Nacktheit über dem Gesims und präsentieren die Eicheln ihrer Genitalien direkt neben den in Girlanden gemalten Eicheln von Eichen. Die freie erotische Körperlichkeit wird auch deutlich, wenn Gott die Vegetation der Erde schafft und dabei dem Betrachter sein entblößtes Hinterteil darbietet, wenn  Adam und Eva im Paradies nicht nur mit dem Apfel der Ursünde frönen oder die Söhne Noahs ihren betrunkenen Vater finden. Kein Wunder, daß der prüde niederländische Papst Hadrian VI. später von einem „Dampfbad der Nackten“ sprach und die Sistina am liebsten abgerissen hätte.
 
Michelangelo war vom Ehrgeiz getrieben, setzten doch die Gemälde von Botticelli, Ghirlandaio und andere 30 Jahre zuvor bereits an den Wänden der Sistina (erbaut 1475-1483), für ihn nur schwer zu übertreffende Maßstäbe. Sein Gewölbe sollte mit den besten Florentiner Malern konkurrieren können. Das Riesenprojekt bewältigte Michelangelo, der sich eigentlich als Bildhauer verstand, mit nur wenigen Hilfsarbeitern. 500 qm Malfläche in ca. 20 m Höhe waren auszumalen. Dazu konstruierte Michelangelo ein Gerüst, eine in der Wand befestigte selbsttragende Brücke, die als sein erstes architektonisches Werk gelten kann. Wegen seiner später ausgeführten grandiosen und für die kommende Jahrhunderte beispielhafte Architektur reisen nach 500 Jahren die Bildungstouristen noch heute nach Rom und Florenz.
 
Wer alles über Michelangelo erfahren will, wird das gesamte packende Werk in seiner ganzen Fülle lesen müssen, wozu der Rezensent explizit ermuntern möchte. Die kenntnisreiche Mischung aus Künstlerbiographie und kunsthistorischer Deutung der Werke (Kunstkritik) bietet bei vorzüglicher Bebilderung die Zusammenfassung der 50jährigen Beschäftigung des Autors zum Thema „Michelangelo Buonarroti“. Ein opulenter Band.
 
Horst Bredekamp – „Michelangelo“
© 2021 Verlag Klaus Wagenbach, 811 Seiten, Ganzleinen Schutzumschlag, Lesebändchen, zahlreiche Abbildungen und Anmerkungen (Verzeichnis über 54 Seiten), ausgiebiges Literaturverzeichnis (58 Seiten)  -  ISBN 978 3 8031 3707 4
89,- €  
 
Weitere Informationen:  www.wagenbach.de