Matthias Claudius und sein „Freund Hein“

Streiflichter einer merkwürdigen Beziehung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Matthias Claudius und sein „Freund Hein“
 
Streiflichter einer merkwürdigen Beziehung
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Der schon zu Lebzeiten (1760-1815) und noch immer ungewöhnlich populäre Dichter Matthias Claudius, dem wir den bekannten, hauptsächlich von ihm bestückten „Wandsbecker Bothen“ mit seinen wunderbaren Geschichten und Gedichten verdanken, die teilweise bis heute allbekannt geblieben sind, hat dem leibhaftigen Tod als eine mythischen Figur unter dem vertraulichen Namen „Freund Hein“ einer festen Platz in der deutschen Sprache und Literatur gesichert. Auf diese Personifizierung des Todes kommt er in seinen Dichtungen oft zu sprechen. Selbst wo er nicht ausdrücklich genannt ist, kreisen viele Claudius-Verse um des Knochenmanns stets Gegenwart im Leben jedes Menschen.
 
1775 widmete Claudius seine Zeitschrift dem „Freund Hein“: „Ihm dezedier ich mein Buch, und Er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustüre des Buches stehen.“ Wie umfassend er die Gestalt sah, erweisen ihre Titel „Hausgott“, der für  seine antike und „Schutzheiliger“, der für seine Erscheinung im Christentum steht.
 
Die Bezeichnung „Freund Hein“ ist erstmals im Jahr 1650 schriftlich belegt. Man hatte den Tod schon in den mittelalterlichen Totentänzen und seit dem 16. Jahrhundert allgemein in der Figur eines aufrecht stehenden menschlichen Skelettes dargestellt, der früher eine Lanze oder Pfeil und gespannten Bogen, später fast nur noch die Sense als Attribute beigegeben waren, Zeichen unentgehbarer Gewalt, mittels derer die Menschenleben beendet wurden. Dieser ununterbrochenen Tradition war man sich zu Claudius' Zeiten noch bewusst, wie etwa der Buchtitel „Freund Heins Erscheinung in Holbeins Manier“ des Märchendichters Musäus erweist; die Schrift erschien in demselben Jahr, in dem Claudius seine Widmung veröffentlichte. Mit demselben Thema beschäftigten sich seinerzeit unter dem Titel „Wie die Alten den Tod gebildet“ auch Lessing (1769) und Herder (1786). Beide versuchten, dem seit dem Mittelalter bestehenden düsteren Bild des Todes auch mit Rückgriff auf die Antike eine freundlichere Erscheinung zu geben: Die Vorstellung vom Tod in Gestalt eines schönen Jünglings und sanften Zwillingsbruder des Schlafs sollten die Angst und das Grauen abmildern, die damals die Aura des Todes noch weitgehend beherrschten.
 
Schon in der Barockdichtung lassen sich allerdings Anzeichen für ähnlich Tendenzen erkennen, wenn der leibhaftige Tod zuweilen speziell als komisch verzweifelte Warnung für junge Frauen berufen wird, die ihre schmachtenden Liebhaber nicht zur rechten Zeit erhören, denn dann wird eines Tages der bleiche Tod deren Rolle übernehmen: „Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand / Dir endlich mit der Zeit um deine Brüste streichen“ (Hoffmann von Hoffmannswaldau: „Vergänglichkeit der Schönheit“). Das Sonett entstand um 1670 und wurde erstmals 1695 gedruckt. In einem Rollengedicht, das Claudius genau 80 Jahre später veröffentlichte, wird die Nuance, daß der Tod als Liebhaber erscheint, zum ernsthaft behandelten Thema: Er wird nicht mehr halb schelmisch als drohend, sondern genau entgegengesetzt als und ruhig tröstend vorgestellt. So hat es 1817 Franz Schubert musikalisch stimmig interpretiert.
 
                        Der Tod und das Mädchen
 
                        Das Mädchen:
                                   Vorüber! Ach vorüber!
                                   Geh, wilder Knochenmann!
                                   Ich bin noch jung, geh Lieber!
                                   Und rühre mich micht an.
                        Der Tod:
                                   Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
                                   Bin Freud und komme nicht, zu strafen:
                                   Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,
                                   Sollst sanft in meinen Armen schlafen.
 
Die Angst vor dem Tod steigert sich in den wie panische Hilferufe (vier Ausrufezeichen!) hervorgestoßenen Worten gerade eines jungen Menschen, der sich um sein Leben und um seine Liebe betrogen glaubt. Jedoch dem Tod kann niemand entgehen - die Bedrohung besteht in jedem Fall weiter. Freund Hein aber („bin Freund“) weiß die Angst mit leisen, beruhigenden Tönen zu lindern oder gar zu nehmen. Zuletzt gibt er sich als 'sanfter' Liebhaber zu erkennen, der seiner Braut in der Hochzeitsnacht nicht 'wild' wie andere Männer begegnen wird. So erscheint er wirklich als 'des Schlafes Bruder' und nicht als ein Feind der Menschen. Wie erfolgreich Claudius diese Botschaft in die Literatur eingebracht hat, zeigt etwa die Formulierung in Wilhelm Raabes Roman „Stopfkuchen“, in der der Tod „unser allgemeiner Freund Hein“ genannt wird.
 
Als Maria Theresia im November 1780 gestorben war, widmete ihr Claudius den schlichten Nachruf: „Auf den Tod der Kaiserin“:
 
            Sie machte Frieden! Das ist mein Gedicht.
            War ihres Volkes Lust und ihres Volke Segen,
            Und ging getrost und voller Zuversicht
            Dem Tod als ihrem Freund entgegen.
            Ein Welterobrer kann das nicht.
            Sie machte Frieden! Das ist mein Gedicht.
 
Allein schon durch den Friedensschluß von Teschen im Mai 1779 (zwischen Österreich und Preußen) konnte sie sich zuversichtlich als „Freund“ des Todes fühlen: Freund Hein wird sie liebevoll an- und aufgenommen haben.
 
Den Tod als Freund anzusehen und anzunehmen ist eine Lebensweisheit, die Claudius immer wieder anspricht. So am Ende seines bekanntesten Gedichts „Abendlied“, in dem er das Wirken des Todes als gottbestimmt wertet:
 
                        Wollst endlich sonder Grämen
                        aus dieser Welt uns nehmen
                        durch einen sanften Tod.
 
Auch im 1783 entstandenen Gedicht „Der Mensch“ beruhigt dieser sich nach den mannigfachen Quälereien eines langen Lebens zuletzt erkennbar in den  Armen Freund Heins: „Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder, / Und kömmt nimmer wieder.“
 
Die Qualen des Lebens freiwillig abzukürzen, statt Freund Hein und dessen Erscheinen getröstet abzuwarten, ist für Claudius Frevel und Undankbarkeit. Das wird so verdeckt wie überraschend in einem seiner Miniaturgedichte in heiterer Form angedeutet:
 
                        Fritze
 
                        Nun mag ich auch nicht länger leben,
                        verhaßt ist mir des Tages Licht;
                        denn sie hat Franze Kuchen gegeben,
                        mir aber nicht.
 
Das Gedichtchen gibt eine typische kindliche Überreaktion auf eine vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeit wieder, die

Matthias Claudius, Friederike Leisching fec.
allerdings als völlig harmlos erscheint und darum in leicht spöttischem Ton vorgetragen ist. Der maßlos übertrieben artikulierte Schmerz über einen entgangenen Genuß und vor allem über die Bevorzugung eines anderen Knaben durch eine anscheinend in kindischer Liebe verehrte „Sie“ wird sich nach allen Erfahrungen so schnell legen, wie er aufgetreten ist. Aufhorchen läßt das komisch und unangebracht wirkende Pathos der zweiten Zeile, das an die mannigfachen Schmerzensschreie der zeitgenössischen Sturm-und-Drang-Dichter denken läßt, die ihre Figuren in allerlei verschiedenen Situationen ihr Dasein verfluchen lassen. Mit dem verzweifelten Ausruf „Verhaßt ist mir des Tages Licht“ führt eine Spur auf Goethes „Werther“, den Claudius 1774 in einer warmherzigen, emphatischen Rezension vor allem seinen jugendlichen Lesern vorstellte. Er bewundert Goethes Kunst uneingeschränkt und versteht auch die Liebe Lottes zu Werther. Aber das Finale mit Werthers Selbstmord aus Kummer, daß seine Geliebte einem andern versprochen ist und ihm ihr Ja-Wort gegeben hat, mißbilligt Claudius scharf. Für den Liebeskummer hat er alles Verständnis; er hätte Werther und seinen jugendlichen Lesern aber empfohlen, diese Lebenskrise trauernd, aber tapfer und schließlich erhobenen Hauptes zu überwinden. Auf dem Hintergrund dieser Besprechung und Bewertung des Meisterromans fällt auf das Schicksal des kleinen Fritz ein anderes Licht. Er grämt sich übermäßig wegen einer Lappalie. Werthers Schmerz und Tod sind letztlich die Sache nicht wert, die sie veranlaßt hat. Angesichts der gewaltigen, alles andere am Ende überschattenden Aufgabe, sich mit Freund Hein gut zu stellen und seine Ankunft in Zuversicht zu erwarten, versagt Werther. Das ist Claudius' ernste Meinung, denn er mahnt die jugendlichen Leser des Romans wie seiner Kritik eindringlich, solche Fehler zu vermeiden, und Goethe gibt ihm im Vorwort zur zweiten Auflage des „Werther“ recht: „Sei ein Mann und folge mir nicht“, ist Werthers Mahnung.
Im kleinsten Format und verblüffendem Ton spricht Claudius auch in diesem Gedichtchen unvermerkt große Themen an – und dazu gehört für ihn sein lebenslänglicher Begleiter „Freund Hein“.
 

© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022