Tödliche Uhren

Cy. - „Radium Girls - Ihr Kampf um Gerechtigkeit“

von Andreas Rehnolt

„Radium Girls“

Die Zeichnerin Cy. beschreibt in einer eindrucksvollen
Graphic-Novel einen der ersten Arbeitskämpfe von Frauen
gegen eine mächtige Industrie

Im Hamburger Carlsen-Verlag ist eine eindrucksvolle Graphic-Novel mit dem Titel „Radium Girls - Ihr Kampf um Gerechtigkeit“ erschienen. Sie berichtet von einer Gruppe junger Frauen, die an ihrem Arbeitsplatz in einer Uhrenfabrik in Orange/New Jersey systematisch vergiftet wurden. Sie wurden als „Radium Girls“ oder „Ghost Girls“ bekannt, weil sie sich bei der Arbeit eine Radiumvergiftung zugezogen hatten. Ihre Arbeit hatte darin bestanden, Zifferblätter von Uhren mit radioaktiver Leuchtfarbe zu versehen. Die Frauen nahmen dabei gefährliche Dosen Radium auf, weil sie auf Anweisung die Pinsel ableckten, um feine Linien ziehen zu können.

Die unter dem Pseudonym Cy. arbeitende französische Zeichnerin Cyrielle Evrand schildert in dem 136 Seiten starken Band den Arbeitsalltag der jungen Frauen. Die Erzählung beginnt 1918, als die Mitarbeiterin Grace in der Fabrik im Städtchen Orange eine neue Kollegin anlernt. Dabei erzählt sie der Neuen von der „sehr wertvollen und teueren Farbe Undark“. Und sie erklärt ihr auch, daß sie die Pinsel während der Arbeit immer wieder mit dem Mund befeuchten soll, bevor sie sie in die Farbe taucht, weil so weniger davon verloren gehe.
Der Geschmack der Farbe ist metallisch, im Dunkeln, leuchten etwa die angemalten Fingernägel oder Kleidungsstücke, die mit der Farbe in Berührung kommen. Die jungen Frauen benutzen die Farbe auch, um bei Parties, Kino- oder Theatervorstellungen auf sich aufmerksam zu machen. Den Namen „Ghost Girls“ erhalten sie, weil sie sich auch die Gesichter und die Hände mit der Leuchtfarbe bestreichen. Nachdem eine aus ihrer Arbeitsgruppe, Mollie, stirbt, wird von der Firmenleitung verbreitet, die junge Frau sei an einer Geschlechtskrankheit gestorben.
Doch als allen der jungen Fabrikarbeiterinnen nach und nach die Zähne ausfallen, sie unerklärliche Schmerzen haben und noch einige sterben, werden die „Radium Girls“ mißtrauisch. Ein Arzt erklärt ihnen schließlich, was es mit den Krankheits- und Todesfällen auf sich hat und daß sie während der Arbeit durch das Ablecken der Pinsel immer kleine Mengen des Radiums in sich aufgenommen haben. Das sei allmählich in die Knochen gelangt, habe die roten Blutkörperchen zerstört und zu einer fortschreitenden Anämie geführt. Schließlich sei es so, daß das Radium die Frauen von innen bestrahlt.

Durch einen von fünf von ihnen gestarteten Prozeß wird einer der größten Arbeits-Skandale in der Geschichte der USA öffentlich bekannt. Der Kampf der „Radium Girls“ gegen das Unrecht, das ihnen angetan wurde, führte zu maßgeblichen Änderungen der Gesetzgebung und der Gründung einer Behörde, die für den Schutz der amerikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter zuständig ist. Cy. erzählt diese erschütternde Geschichte nicht als trockene Geschichtsstunde, sondern als Ode an die Freundschaft und Lebensfreude ihrer Protagonistinnen.
Allein im Jahre 1920 produzierten drei große amerikanische Hersteller 4 Millionen Uhren mit radiumhaltigen Leuchtziffern. Die bekannteste der Fabriken befand sich in Orange/New Jersey und gehörte der United States Radium Corporation. Weitere ähnliche Fabriken verschiedener Unternehmen gab es im Bundesstaat Connecticut in Waterbury, Bristol, Thomaston und New Haven sowie in Ottawa, im Staat Illionois. In Connecticut starben 30 der verstrahlten Arbeiterinnen, in Illinois 35 und in New Jersey 41. Nach anderen Angaben waren es alleine in Ottawa 40 Todesopfer.
Wie die „Ghost Girls“ leuchtet das Cover im Dunklen. Aber keine Sorge - diese Farbe enthält garantiert kein Radium!  

Cy. - „Radium Girls - Ihr Kampf um Gerechtigkeit“
© 2021 Carlsen Verlag, - 136 Seiten, gebunden. vierfarbig – ISBN: 978-3-551-76389-1
20,- €

Weitere Informationen: www.carlsen.de