Das Märchen von Hyazinth und Rosenblüte

Erinnerung an den 250. Geburtstag des Dichters Novalis

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Das Märchen von Hyazinth und Rosenblüte
 
Erinnerung an den 250. Geburtstag des Dichters Novalis
 
Von Heinz Rölleke
 
Am 2.5.1772 wurde Freiherr von Hardenberg (seit 1797 Dichtername Novalis, der das Neuland Bestellende) auf Schloss Oberwiederstedt in Sachsen-Anhalt (heute Novalis-Forschungsstelle für die Frühromantik) als zweites von elf Kindern geboren. Nach einer pietistisch geprägten Erziehung durch seine Mutter nahm er 1790 in Jena das Studium (u.a. bei Friedrich Schiller) auf und machte eine glänzende Karriere im Salinenwesen: 1799 Salinenassessor, 1800 Amtshauptmann. Gleichzeitig kam es zu engsten persönlichen und künstlerischen Verbindungen mit den deutschen Frühromantikern wie den Brüdern Schlegel und Ludwig Tieck. Er wurde zum poetischen Kopf der Jenaer Romantik, und in schneller Folge schaffte er seine Werke, unter denen vor allem die unter dem Eindruck des frühen Todes seiner Verlobten entstandenen „Hymnen an die Nacht“ mit ihrer ganz neuen, bezwingend magischen Spache einen Durchbruch bedeuten: Nicht mehr die rationalistische Sichtweise der Aufklärung, sondern ein mystisch bestimmter Umgang etwa mit den bislang verfemten, nun positiv aufgefassten Themen Nacht, Schlaf und Traum leitet eine neue Weltsicht ein. Größere prosaische Dichtungen wie „Die Lehrlinge zu Sais“ und der Roman „Heinrich von Ofterdingen“ folgten, begleitet von dem großen Essay „Christenheit oder Europa“ sowie zahllosen philosophischen Reflexionen. Vieles wurde alsbald aus dem großen Nachlass des 1801 früh verstorbenen Genies gesichtet, veröffentlicht und teilweise auch (vor allem durch Tieck) ergänzt.
            Theoretisch und praktisch hat sich kein Romantiker so  dezidiert mit dem Märchen befaßt und es zugleich so hoch eingeschätzt wie Novalis.
Autobiographisch: „Im Märchen glaub ich am besten meine Gemütsstimmung ausdrücken zu können.“ - Poetologisch: „Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie – alles Poetische muß märchenhaft sein.“ - „Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Märchen – magische Begebenheiten.“ - „In einem echten Märchen muß alles wunderbar – geheimnisvoll und unzusammenhängend sein - alles belebt […]. Die ganze Natur  muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein.“ - Philosophisch: „Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft.“ - „Märchen […] der Naturzustand vor der Natur […] durchaus ähnlich wie das Chaos vor der vollendeten Schöpfung.“ In einem wunderschönen Bild: Das Märchen sei das einzige Blatt aus dem Buch der Schöpfung, das die Sintflut überlebt habe, also das einzige Zeugnis vom Urzustand der Welt.
            Novalis definiert die Rolle des Märchens in der Gegenwart als kostbares Zeugnis des vorgeschichtlichen Chaos (Volksmärchen) und in eins damit zugleich als Prophetie eines künftigen „geordneten Chaos“ (Kunstmärchen). Zugleich betont er theoretisch und in seinen Dichtungen die Nähe oder gar Identität von Märchen und Traum. Im „Heinrich von Ofterdingen“ begegnet das nachmalige Symbol der Romantik, die Blaue Blume, die der Märchenheld im Traum erblickt und dann nach einer langen Suchwanderung findet (so hatte schon lange vor ihm der Pietist Jung Stilling in einem Binnenmärchen seiner Autobiographie, das durch die Aufnahme in die Grimm'sche Märchensammlung bekannt und berühmt blieb, Joringel von der zaubermächtigen Roten Blume träumen lassen, die er dann nach langer Wanderung in der Realität fand).
            Die meisten solcher Vorstellungen hat Novalis in sein nur fünf Seiten umfassendes Märchen „Hyazinth und Rosenblüte“ (zum Titel vgl. wiederum Jung Stillings „Jorinde und Joringel“) eingebracht. Er folgt insofern dem Muster des Volksmärchens, als der Märchenheld in der Zeit seiner Pubertät auf eine lange Suchwanderung fast um die ganze Welt auszieht. Zuletzt kommt er mit Hilfe sprechender Blumen und anderer Wunder ans erwünschte Ziel, das verschleierte Bild zu Sais.
            Es findet sich eine ungewöhnlich dichte Fülle von Symbolen und literarischen Anspielungen, die den Text zu einem Stück Weltliteratur machen. Die Sprache bleibt einerseits im schlichten Volksmärchenton, erweist sich beim näheren Hinhören aber als wunderbar kunstvoll, so dass sich das intendierte Ineinander von Volks- und Kunstmärchen ergibt.
            In absichtsvoller Vermischung der Zeitebenen hört man wie schon im Titel von „Hyazinth“, einem „blutjungen“ Jüngling und seiner Geliebten, der lieblichen „Rosenblüte“; wie viel Wert Novalis auf die Namen legt, zeigt sich in deren nachdrücklicher Wiederholung: „Rosenblüte, so hieß sie […] Hyazinth, so hieß er.“ Sein Name weist auf einen antiken Mythos zurück, gemäß dem der Gott der Künste Apollo seinen Geliebten Hyazinth durch einen unglücklichen Diskuswurf tötete und aus dessen Blut die namensgleiche Blume schuf. Damit ist auch die namentliche Verwandtschaft mit Rosenblüte evident: Das Liebespaar ist in den Bildern der Blumen Rose und Hyazinthe symbolisch verbunden, was auch die namentliche Nähe von „blutjung“ und „Blüte“ anklingen läßt. Es wird deutlich, dass der Jüngling die Welt der Kunst repräsentiert, seine Geliebte die der Natur. Nun aber sind die Harmonien zwischen beiden Bereichen gestört, denn der angehende Künstler ist in eine Depression verfallen, er „grämt sich unaufhörlich“, spricht mit Tieren und Felsen „lauter närrisches Zeug“ - er und die Natur, die zuvor im unbewussten, märchenhaften Einklang waren, verstehen einander nicht mehr. Die Natur versucht vergeblich, ihn aufzuheitern: „Die Gans erzählte Märchen, der Bach klimperte eine Ballade“ und „ein dicker Stein machte lächerliche Bocksprünge“, alles unzweideutige Anspielungen auf Perraults Märchensammlung „Contes de ma mère l'Oye“, auf Johann Ernst Bach, den Erfinder der musikalischen Ballade, sowie auf den wohlbeleibten Freiherrn von Stein, dessen Reformpolitik die Hardenbergs kritisch sahen. Auch Rosen und Efeu versuchen, den Jüngling von seinem Mißmut zu heilen; es sind Symbole der Natur und der Kunst (Dichter wurden nicht nur mit Lorbeer, sondern auch mit dem 'unsterblichen' Efeu gekrönt).
            Vor diesem Lebensabschnitt hatten sich Hyazinth und Rosenblüte  ineinander verliebt: Kunst und Natur waren sich „von Herzen gut.“
 
            Ah! Wie bald war die Herrlichkeit vorbei. Es kam ein Mann aus   
           fremden Landen, der war erstaunlich weit gereist, hatte […] ein    
           wunderliches Kleid mit vielen Falten und seltsamen Figuren          
           hineingewebt [...]. Nun war Hyazinth sehr neugierig und setzte sich          
           zu ihm […]. Da tat er seinen weißen Bart voneinander und erzählte          
           bis tief in die Nacht […] von fremden Ländern, von unbekannten
           Gegenden, von erstaunlich wunderbaren Sachen […] und ist mit   
           Hyazinth in tiefe Schachten hinuntergekrochen.
 
Der Fremde, in dem Rosenblüte einen „alten Hexenmeister“ sah, hatte ihrem Geliebten ein „Büchelchen dagelassen, das kein Mensch lesen konnte.“
            Es dürfte sich um eine Verkörperung des rationalen männlichen Prinzips handeln, dem Novalis durch seine Studien und seinen Beruf nicht fernstand (daß Hyazinth mit dem Fremden in „tiefe Schachten“ hinabgestiegen ist, spielt darauf an). Sein Auftreten im mit hieroglyphischen „Figuren“ gezierten Kleid spricht dafür. Er kann dem wissensdurstigen Jüngling keine Lösung seiner Fragen und Probleme geben, sondern nur sein Verlangen nach „fremden Ländern und wunderbaren Sachen“ wecken und ihm ein rätselhaftes „Büchelchen“ überlassen. Die Begegnung mit dem mysteriösen Weltenwanderer und die Vertiefung in das rätselhafte Buch machten ihn “tiefsinnig“, so dass er „einen ganz neuen Lebenswandel“ begann, unter dem seine ihm seitdem  entfremdete Geliebte sehr litt. Dann tritt ein unerwarteter Wandel durch eine „alte wunderliche Frau im Walde“ ein: Sie hat das Zauberbuch ins Feuer geworfen und ihm gesagt, wie er wieder gesunden könne: Er solle sich von seinen Eltern verabschieden und dann in die weite Welt ziehen, damit er wieder wie in den alten, durch „Herz und Liebe“ geprägten, glücklichen Zeiten leben  könne, „ich muß sie suchen gehen […] wohin, ich weiß selbst nicht, dahin wo die Mutter der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau.“
            Nun lief er „durch Täler und Wildnisse, über Berge und Ströme“ und fragte „Tiere, Felsen und Bäume“ vergeblich nach der Göttin Isis; „manche lachten, manche schwiegen“: Der kindlich-naive Kontakt zur Natur ist gestört.Sie zeigt sich ihm nun von ihrer düsteren Seite („raues, wildes Land, Nebel, Wolken und Stürme, Sandwüsten mit glühendem Staub“ hemmen seinen Weg). Er scheint im urzeitlichen Chaos angekommen zu sein. Da wird ihm die Zeit lang und seine Unruhe legt sich. „Nun wurde die Gegend auch wieder reicher“. Er konnte sich zwar immer noch nicht mit den grünen Büschen verständigen, „doch sie erfüllten sein Herz mit grünen Farben“ (im Mittelalter die Farbe der Freude). Nun wird seine Sehnsucht nach der Göttin immer heißer, und die Zeit vergeht ihm immer schneller. In diesem Absatz finden sich zehn adjektivische Komparative („mannigfaltiger“, „reicher“, ebener“ usw.), die das Drängen nach einem Ziel hörbar machen. Danach kann er auch wieder mit „einer Menge Blumen“ sprechen, und sie weisen ihm den Weg „aufwärts.“ Er erreicht sein Ziel, was durch zwei Superlative, welche die voranstehenden Komparative ablösen, angedeutet wird: „süßeste Bangigkeit“ führt ihn im Traum in das „Allerheiligste“ der Göttin, der Mutter aller Dinge:
 
            Er stand vor der himmlischen Jungfrau, da  hob er den leichten,   
            glänzenden Schleier, und Rosenblütchen sank in seine Arme.
 
Der Traum endet mit „reizenden Klängen und abwechselnden Akkorden; es dünkte ihm alles bekannt und doch in nie gesehener Herrlichkeit.“ Er fühlt sich also in die bekannte glückliche alte Zeit zurückversetzt, die ihm aber nun in einer höheren Herrlichkeit erscheint.
            Hyazinth hat sein Märchenziel nach Durchwanderung einer chaotisch erscheinenden Natur und unermüdlichem Suchen mit Hilfe einer ihm wieder antwortend helfenden Natur erreicht und damit zugleich das märchenübliche Happyend. Er hat das Geheimnis der Natur und den rechten Umgang mit ihr während seiner zunächst ziellosen Suchwanderung erfaßt, die Geliebte und sich selbst in Form einer Spiralbewegung auf einer höheren Ebene wiedergefunden. Er floh aus dem Paradies seiner Kindheit und kehrt gereift und um viele Erfahrungen klüger in diese glückliche Atmosphäre zurück. Damit ist ein wichtiger Beitrag zur seinerzeit viel diskutierten und von den jungen Dichtern erstrebten romantischen Universalpoesie geleistet.
            Heinrich von Kleist beschreibt wenig später in seinem „Marionettentheater“-Aufsatz einen ähnlichen Weg, indem er erkennt, dem Menschen werde seit seinem Sündenfall der Rückweg ins Paradies durch den Engel mit dem Flammenschwert für immer versperrt, also müsse er sich auf den Weg um die ganze Erde machen, um durch ein hinteres, unbewachtes Tor ins Paradies zurückkehren zu können, reif geworden durch umfassende Welterfahrung. Ähnlich hat es Novalis in seinem berühmten Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ formuliert:
 
            Wenn sich die Welt ins freie Leben  
            Und in die Welt zurück begeben,
            Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
            Zu echter Klarheit werden gatten,
            Und man in Märchen und Gedichten
            Erkennt die wahren Weltgeschichten,
            Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
            Das ganze verkehrte Wesen fort.
 
Pure Rationalität kann das nicht leisten; es muß die Kraft der Künstler und der Liebenden hinzukommen, um dann gereift und weise geworden, das Paradies der Kindheit in der Einheit von Kunst und Natur wieder zu finden:
 
            Wenn die, so singen oder küssen,
            Mehr als die Tiefgelehrten wissen.
 
Eichendorff hat das „geheime Wort“ als „Zauberwort“ auf seine Weise dargestellt:
 
            Schläft ein Lied in allen Dingen,
            Die da träumen fort und fort.
            Und die Welt hebt an zu singen,
            Triffst du nur das Zauberwort.
 
Mit unerwartetem Humor und in milder Ironie verabschiedet Novalis seine Leser aus der Märchenwelt:
 
            Hyazinth lebte nachher noch lange mit Rosenblütchen unter seinen frohen Eltern und Gespielen, und unzählige Enkel dankten der alten wunderlichen Frau für ihren Rat und ihr Feuer; denn damals bekamen die Menschen soviel Kinder als sie wollten.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022