Sehnsucht nach wahrer Stille

"Das stille Mädchen" - Der neue Roman von Peter Høeg dürfte die Leserschaft polarisieren

von Stefan Schmöe
Sehnsucht nach wahrer Stille


Mit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ hatte Peter Høeg einen grandiosen Roman vorgelegt, dessen erster Teil sicher zum Besten gehört, was das späte 20. Jahrhundert literarisch hervorgebracht hat (auch wenn das actionreiche Finale dagegen leider gehörig abfällt). Die nachfolgenden Romane konnten an diesen Erfolg nicht ganz anknüpfen, und zuletzt hat sich der dänische Schriftsteller für einige Jahre geheimnisvoll von der Welt zurückgezogen – in Klausur für den ganz großen Wurf. Mit seinem neuen „Projekt“, so Høeg in einem Interview gegenüber der FAZ, wolle er „vorankommen“, eine „vertikale Veränderung“ erreichen nach dem eher spiralförmigen In-sich-Kreisen der bisherigen Romane. Nun fühlt man sich beim Lesen an einen Hochspringer erinnert, der Großes plant (mindestens, sagen wir, den dänischen Rekord), voller Konzentration sehr elegant und kraftvoll anläuft – und kurz vor dem Absprung ausrutscht, fürchterlich ins Trudeln gerät und gleich die gesamte Hochsprunganlage einreißt. Ein Fehlversuch mit grotesken Zügen.

Høeg schreibt über die letzten Dinge, über das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält,  den Sinn des Daseins. Im Wesentlichen verbirgt sich dahinter so etwas wie das „ewig Weibliche“, und folgerichtig beginnt der Roman ebenso kühn wie programmatisch mit den Worten „Gott die Herrin hatte einen jeglichen Menschen in seiner eigenen Tonart gestimmt, und Kasper konnte sie heraushören.“ Wer diesen Satz nicht wirklich toll findet, sollte das quälende 460 Seiten lange Buch am besten gleich beiseite legen, denn in diesem Stil geht’s unbarmherzig weiter. Kasper ist ein weltberühmter Clown mit übersinnlichem Gehör, der aufhorcht, als er ein Mädchen trifft, das keine für ihn hörbaren Grundstimmungen besitzt und prompt entführt wird. Ein Fall für einen Superhelden also. Für einen halbwegs brauchbaren Thriller aber ist die Handlung zu sprunghaft und unlogisch (ein einigermaßen subtiler Spannungsaufbau fehlt vollends). Vielmehr gibt der Plot einen Passepartout ab für eine Art esoterischer Privatreligion, für die der Autor ein orthodoxes Nonnenkloster, Kaspers sterbenden Vater als dauerpräsentes Mysterium des Todes, eine afrikanische „Superwoman“ für naturreligiös- ethnisches Flair, eine Geowissenschaftlerin für den naturwissenschaftlichen Aspekt und einiges mehr (zum Beispiel viel Musik, vor allem Bach) auffährt, die Erde beben lässt und in die Kanalisation, sprich: den Untergrund der Dinge, eindringt. Der Bösewicht heißt zu allem Überfluss „Kain“, und irgendwie ist es der „Kain“ in uns allen. Kurz: Entweder man mag so etwas, oder man kommt schnell zu dem Urteil: Schmarrn.

Die Handlung selbst ist kaum nachvollziehbar, so viele absonderliche Wendungen nimmt sie. Das soll vermutlich den pathetischen Grundton ein wenig abmildern. In diese Richtung geht auch die Sprache, die man als „cool“ bezeichnen könnte, auch weil sie dem Helden Kasper bei jeder noch so katastrophalen Situation (z.B. Bauchdurchschuss) einen lässigen Spruch in den Mund legt – eine Lebensweisheit oder irgendetwas anderes Kluges, in jedem Fall ein Zeichen seiner Überlegenheit und, allen Verletzungen zum Trotz, moralischen Unbesiegbarkeit, als sei er ein Vetter James Bonds. Und so kommt es, dass auf Seite 356 ein Satz auftaucht, mit dem Høeg dem Rezensenten ein einziges Mal aus dem Herzen spricht, wenn er nämlich die Afrikanerin zu Kasper sagen lässt: „Und wenn ein Erzengel vor dir stünde, du würdest deinen Mund nicht halten.“ Dieser Befund ist symptomatisch für den gesamten hyperaktiv auftrumpfenden Roman, der uns die Halbweisheiten nur so um die Ohren hauen möchte.

Allen Fans von Peter Høeg sei dringend geraten: Lieber zum zehnten oder zwölften Mal „Fräulein Smilla“ lesen (oder auch die „Vorstellung vom 20. Jahrhundert“, wenn man es eher verspielt mag). „Das stille Mädchen“ dagegen weckt eine tiefe Sehnsucht nach wirklicher Stille – nämlich nach einer Stille, die vor der Geschwätzigkeit dieses Romans bewahrt.
Beispielbild

Peter Høeg
Das stille Mädchen

Roman
aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle

© 2007 Hanser Verlag

464 Seiten, Gebunden.
ISBN-10: 3-446-20824-0
ISBN-13: 978-3-446-20824-7
€ 24,90

Weitere Informationen unter
www.hanser.de