Formen der Nächstenliebe

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Formen der Nächstenliebe
 
Manchmal muß man von dem was man hat etwas abgeben, wenn man erkannt hat, daß der Nächste das eher braucht. Ich habe jetzt einem Nachbarn meine Hanteln geschenkt, auch weil ich sie selbst kaum benutzt habe. Im La Bohnita, Michaelstraße 7, kann man beim Kaffeekauf einen Kaffee mehr bezahlen für den, der auch einen Kaffee trinken will und kein Geld hat. Manchmal überläßt man dem anderen seinen Platz. Ich bekam jetzt bei meinem Hausarzt einen Platz angeboten. Eine junge Frau stand für mich auf und lächelte mich an. Ich nahm dann ihren Platz, auch um ihr selbstloses Handeln zu würdigen. Ihr war wohl nicht klar gewesen, daß sie von da an selbst stehen mußte und schaute irgendwann sehnsuchtsvoll auf ihren so leichtsinnig freigemachten Platz. Irgendwann fiel ihr auch auf, daß meine spontane Dankbarkeit bald nicht mehr so groß war wie am Anfang der Platzübernahme. Sogar die lobenden Blicke der anderen im Warteraum bekamen dann etwas Spöttisches. Kann man eigentlich seinen einmal abgegebenen Platz wieder zurück verlangen? „Ich habe es mir anders überlegt. Kann ich meinen Platz zurück haben?“ Gibt es beim „Platz-abgeben“ ein Widerrufsrecht?
     In Paderborn wird gern und viel gespendet. Ein Freund erzählte mir nun, daß manche Paderborner ihre Unterstützung davon abhängig machen würden, daß der Notleidende die Spende sinnvoll verwendet und nicht gleich wieder für Zigaretten und Alkohol zum Fenster rauswirft. „Da darf er sich nicht wundern, wenn ihm die 20 Cent wieder aus dem Hut genommen werden“, sagte mein Freund. Es erscheint klar, daß ein Spender sein schwer verdientes Geld sinnvoll ausgegeben sehen möchte. Man verzichtet nicht selbst auf Zigaretten und Alkohol, um dann anderen dabei zuzusehen, wie sie sich in dieser Hinsicht austoben. Mein Freund hatte mal einem notleidenden Politiker von der FDP etwas gespendet und traf ihn dann abends im Nobelrestaurant „Balthasar“. Da hätte man sich mehr Feingefühl gewünscht. Wenn aber der Notleidende oder die Notleidende sagen würde, ich nehme die Spende nur, um weiterhin meinen Englisch-Sprachkursus bei der VHS bezahlen zu können. „Dear Stranger, thank you for the money“, das hätte wieder Sinn gemacht. Wenn sie schwören würden „Ich will mit dem Geld das neue Buch von Eugen Drewermann kaufen“ oder „Ich hole mir davon eine Zehnerkarte für das Diözesanmuseum“, dann würde jeder sie so großzügig unterstützen, wie es die Nächstenliebe verlangt.
     Der Nachbar, dem ich meine Hanteln gespendet habe, hat mir jetzt im Gegenzug seinen häßlichen Fernsehsessel gespendet. Er ist durch das Hanteltraining so stark geworden, daß ich mich lieber nicht dagegen gewehrt habe. Ich habe mich aber sofort hinsetzen müssen und war dann froh, daß ich dafür seinen häßlichen Sessel hatte.
     Apropos Spenden: Am 3.4. geben Paderborner Künstler ein Benefiz-Konzert im Deelenhaus um ihre ukrainischen Kollegen und Kolleginnen zu unterstützen. Beginn ist um 18:00 Uhr. Helfen sie mit.
 
 
© 2022 Erwin Grosche
 
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