Neuensorga

Geschichte einer Flucht

von Rudi Engel

Foto © Frank Becker
Neuensorga
 
Bei der ersten Vertreibung aus der Heimat
galt unsere größte Sorge der Frage,
Wo werden sie uns hinbringen?
Wie werden wir aufgenommen?
Und dann hieß dieser Ort,
in den sie uns brachten,
Neuensorga.
 
 
03. 09. 1939, So - Rote Zone und die Tage der Flucht
(Den folgenden Bericht hatte ich zehn Jahre später im Rahmen einer Studienarbeit im Fach Geschichte angefertigt.)
 
Noch war an jenem ersten Sonntagmorgen im September 1939 bei uns im Dorf alles in Ordnung. Als es zum Hochamt zusammenläutete, sind wir mit Trappe Jeepschin und seiner Frau, unseren neuen Nachbarn schräg gegenüber vom Zollhaus, bei bestem Vorherbstwetter losgegangen und haben an der Brücke noch Marianne und ihre Schwester Margarete mitgenommen.
Im Rahmen der Predigt verkündete unser Pastor, es sei Krieg, unsere Wehrmacht sei in Polen einmarschiert, und daraufhin würde sich jetzt der Franzose rühren und von der Maginot-Linie aus mobil machen. Doch wir hätten ja den Westwall, und daher sollten alle ruhig bleiben, sollten auf Gott vertrauen; es kann ja alles nicht so lange dauern.
So haben dann auch die Gläubigen nach der Messe noch ziemlich gelassen den Kirchenraum verlassen.
Die Frauen und Mütter sind noch eine Weile auf dem Kirchplatz miteinander gestanden und sind dann, nachdem sie erst noch etwas die Köpfe zusammensteckten, brav nach Hause gegangen, den Sonntagsbraten zu bereiten.
Und auch wie sonst immer sonntags, so sind die Männer noch zum Frühschoppen eingekehrt. Die einen haben beim Hirschen zum Saarfürstbier und einigen Kurzen über die Lage diskutiert; die andern, meist die Alten, gingen runter zum Kaiserhof, haben sich um nichts weiteres geschert und sind mit „Hab oft im Kreise der Lieben…!“ nach oben gegangen zur sonntäglichen Probe des Männergesangvereins oder ins Nebenzimmer zur üblichen Skatrunde oder zur Kegelbahn im Hinterhof.
Als es bei uns daheim zum Mittagessen ging, sagte Oma:
„Laßt uns beten, daß der Krieg nicht zu uns kommt; damals in 14-18, da hatten wir viel hungern müssen, aber der Krieg war drüben in Frankreich geblieben und ist nicht zu uns rübergekommen.“
Während wir also alle im Ort weniger sonntäglich vergnügt, eher etwas bedenklich unseren Gewohnheiten nachgehen, ist Polizeiwachmann Hoffmann auf dem Rad und mit der Schelle unterwegs. Er fährt im ganzen Dorf herum und gibt etwa sinngemäß folgendes bekannt:
„Wir befinden uns ab sofort im Krieg mit Frankreich. In allen Orten, die zur Roten Zone gehören, und so auch bei uns in Brotdorf, sind auf obersten Befehl ab sofort alle Frauen und Kinder zu evakuieren. Kranke und Schwangere werden sofort per Sonderzug ins gesicherte Innere des Reiches gebracht. Wer Verwandte im Hochwald hat, sollte das Allernotwendigste einpacken und auf eigene Faust losziehen und dort vorab Unterschlupf suchen.“
Daraufhin mußten wir also alles stehn und liegen lassen, um, zunächst zu Fuß bis Weiskirchen, nur mit dem Allernötigsten aus der Gefahrenzone fortzukommen.
Während Oma alles ganz ruhig und gelassen hinnahm, sehe ich Mutter noch genau vor mir, wie sie zu weinen anfing und zu mir sagte: „Ed äas Krejch; mir missen fort. Mir kennen netmej dahaam bleiwen; mir missen alles stejn und leie lossen. Ma därref nur ed Allernejdigschd mäadhöllen."
In meiner kindlichen Naivität wollte ich erst gar nicht recht verstehen, weswegen Mutter so drauflos weinte; schon lange hatte ich mich danach gesehnt, daß es endlich wieder auf Reisen ginge. Doch als Mutter dann begann, eilig ein paar notwendige Sachen in den Rucksack zu packen, da wurde mir klar, daß es sich diesmal um etwas ganz anderes, eben um eine erzwungene Flucht ins Ungewisse handelte. Dennoch hatte ich nicht vergessen, meine Flöte und mein angefangenes Schulheft mitzunehmen.
 
Tant´ Bäbby, die hochschwanger war, ist dann zusammen mit den Töchtern Rosemarie und Helga im ersten Flüchtlingszug weggekommen. Sie hat dann wenige Tage später im thüringischen „Bergungsgebiet“ entbunden und die Zwillinge bekommen, in Apolda den Norbert und einen Tag später den Otmar in Bad Sulza.
 
Weiskirchen: Kein Platz mehr in der Herberge.

Mutter war so sehr ergriffen und wollte in ihrer Angst keine Zeit verlieren. Und so sind wir drei dann, Mutter, Oma und ich, mit einem letzten Blick zurück, sozusagen „Hals über Kopf“ losgezogen.
Und da wir in Weiskirchen weitläufige Verwandte hatten, marschierten wir mit dem Notwendigsten auf dem Buckel über Bachem, Losheim und Nunkirchen die 17 Km den Hochwald hinauf und kamen abends sehr spät und todmüde an.
Aber dort ist es uns wie Maria, Josef und dem Kind ergangen; das Haus unserer Verwandten war bereits bis unters Dach mit anderen Flüchtlingen besetzt. Es blieb nichts anderes übrig, als auf den kalten Steinplatten des Hausflurs zu schlafen.    
Es mußte noch vielen anderen saarländischen Flüchtlingen aus der Roten Zone so wie uns ergangen sein, daß sie bei den Verwandten und Bekannten des Hochwalds nicht unterkommen konnten. Denn am nächsten Tag, als wir von Weiskirchen aus wiederum zu Fuß über die Hunsrückhöhenstraße weiter nach Norden marschierten und wiederum totmüde endlich in Hermeskeil ankamen, da war der Ort bereits mit Flüchtlingen überfüllt.
An unsere Unterkunft in dieser Nacht kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber an die Versicherung meiner Mutter vor dem Einschlafen, daß es morgen weiter ginge, und zwar nicht mehr zu Fuß, sondern mit einem Sonderzug der Reichsbahn.
Und so bin ich dann auch auf dem Hunsrücker Notlager fest eingeschlafen...
 
Neuensorga im „Grünen Herzen Großdeutschlands“

Welche Freude erfaßte uns in all dieser Not am anderen Morgen, als wir auf dem Bahnsteig von Hermeskeil noch weitere Flüchtlinge aus Brotdorf wartend vorfanden, unter ihnen auch Tant´ Anna, Mutters jüngste Schwester mit ihrer vierjährigen Tochter Gerlinde.
Die Erwachsenen, die hier stundenlang auf dem Bahnsteig geduldig ausharrten, sahen dem Exodus mit großer Skepsis entgegen. Auf ihren Gesichtern stand die Angst vor der Ungewißheit und Hoffnungslosigkeit: War es wirklich Geborgenheit, die sie drüben empfangen sollte, oder vollzog sich hier nur die nackte Bergung aus einer unverschuldenten Lebensgefahr?
Doch tatsächlich stand nach längerem Warten auf dem Bahnsteig ein Flüchtlingszug auf den Geleisen von Hermeskeil, der uns über den Rhein hinweg im sogenannten „Bergungsgebiet“, irgendwo im Zentrum des Reiches brachte.
Nach langer, aber sicherer Fahrt sind wir dann an einem kleinen verlassenen Bahnhof eines ebenfalls kleinen Ortes mit dem seltsamen Namen „Lederhose“ ausgeladen und anschließend auf Pferdewagen in den noch kleineren Nachbarort „Neuensorga“ gebracht worden.
            Dieser Name „Neuensorga“ klang für uns Flüchtlinge nicht gerade verheißungsvoll. Doch unsere Befürchtungen erwiesen sich bald als unberechtigt, denn alle Flüchtlinge kamen bei den Dorfbewohnern sicher unter und hatten es dort gut getroffen. Neuensorga ist ein idyllischer kleiner Weiler, der nur aus größeren Einzelhöfen besteht, deren Besitzer jetzt fast alle eine Brotdorfer Familie beherbergen.
Auch Mutter, Oma und ich, wir hatten es gut getroffen, und zwar bei der Familie des Futtermittellieferanten Neubauer. Unsere Hausleute besaßen ein stattlich großes Haus und einen weiten Hof dazu. Als Gastfreunde zeigten sie sich äußert zuvorkommend und hilfsbereit; eine unerwartete Güte, die heute noch wohltut.
Erfreulich für uns Kinder war in der folgenden Zeit ein schöner Spätsommer und Herbst zur Eingewöhnung in Haus und Hof, in Feld und Wald.
Aber Thüringen ist dann auch ein Wintermärchen geworden. Denn ebenso erfreulich erwies sich ein besonders strenger Winter mit viel Schnee, der uns mit den wenigen Kindern des Dorfes näher in Kontakt brachte beim Schlittenfahren und vor allem an einer selbstgebauten Sprungschanze, von der wir mit selbstgebastelten Eschenbrettern etwa sechs bis acht Meter weit hinuntersprangen.
 
 
© Rudolf Engel