Gleitlaute als Ausspracheerleichterung

Sprachgeschichtliches zu den Fugenelementen im Deutschen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Gleitlaute als Ausspracheerleichterung
 
Sprachgeschichtliches zu den Fugenelementen im Deutschen
 
Von Heinz Rölleke
 
 
In vielen Komposita finden sich zwischen den beiden zusammengefügten Wörtern Konsonanten, die das erste Wort sinnvoll in der Genitiv- oder Pluralform bieten: der Namen, der Namen-s-tag (Genitiv), die Stimme, die Stimme-n-auszählung (Plural). In seinem Sketch von den Semmelknödeln hat Karl Valentin eine solche Kompositumbildung im Kopf, wenn er hartnäckig behauptet, es müsse korrekt Semmel-n-knödel heißen, weil solche Knödel immer aus mehreren Semmel-n zubereitet seien und sprachlich der Konsonant „n“ überhaupt das Wichtigste sei (zudem hätten alle Bezeichnungen von Knödelgerichten ein „n“ in der Mitte). Als ihn seine Partnerin Liesl Karlstadt mit dem Beispiel „Leberknödel“ kontert, muß er allerdings klein beigeben.
            Was die „s“ oder „n“ in Komposita ansonsten ausdrücken, ist also klar und leicht einzusehen. Wie aber steht es um das Gegeneinander von Namen-s-tag und Geburt-s-tag? Erstere Bezeichnung gibt die richtige Genitivform wieder (der Namen, des Namens): Der (Feier)Tag des Namen-s. Der Genitiv von Geburt wird allerdings genau wie der Nominativ gebildet (die Geburt, nom., der Geburt, gen.). Hier zeigt das „s“ keinerlei grammatische  Form an, und seine inhaltliche Aussagekraft ist gleich Null. Etwas anders steht es um das „s“ im Titel des althochdeutschen „Hildebrand-s-liedes“, der gewiß fälschlich suggeriert, es handle sich um ein von Hildebrand gesungenes Lied – die Brüder Grimm schrieben allerdings konsequent „Hildebrandlied“ als Bezeichnung eines Liedes, das von Hildebrand handelt. 
            Besinnt man sich auf verwandte Kompositabildungen, so fällt einem diese Merkwürdigkeit sozusagen auf Schritt und Tritt auf. Wörter mit auf den ersten Blick funktionslosen und etymologisch nicht begründbaren „s“-Einfügungen sind etwa „Kun-s-t“, abgeleitet von 'können', „Schwul-s-t“, abgeleitet von 'schwellen'.
            Die heiße Begierde der Wildtiere zur Paarungszeit wird mit dem Substantiv „Brun-s-t“, abgeleitet von 'brennen', bezeichnet. Von den merkwürdigen Lauten, die die Tiere dabei von sich geben, ist die gleichbedeutende Bezeichnung „Brun-f-t“, abgeleitet von 'brummen', gebildet. Hier trifft man allerdings statt des Fugen-„s“  auf ein Fugen-„f“. Wie das?
            Die genannten Beispiele für Einfügungen eines „s“ oder eines „f“ - Laute ohne eigene Bedeutung -  haben eine phonetische Funktion: Sie dienen der Ausspracheerleichterung. Ein Substantiv wie 'kunti' (das wäre die 'normale' Ableitung von 'können') ist beschwerlich zu artikulieren: Der Nasal „n“ wird durch die Stellung der Zungenspitze an den Alveolaren (Zahndamm der Oberkieferzähne) gebildet, die unmittelbar anschließende Tenuis „t“ hinter den Oberkieferzähnen, eine ganze Etage tiefer. Da erleichtert nun das eingefügte Frikativ „s“ den Weg der Zungenspitze und die damit gegebene Aussprache erheblich: Die Zunge gleitet in einem Zug vom „n“ über das „s“ zum „t“. Solche Einfügungen zur Spracherleichterung werden deshalb Gleitlaute oder Gleitkonsonanten genannt. Nach einem „n“ steht gegebenenfalls der Gleitkonsonant „s“, nach einem „m“ ein „f“. Hier ist die Gleitfunktion noch deutlicher, denn von „m“ zu „t“ muß die Lautbildung einen weiteren Weg gehen als von „n“ zu „t“. Warum aber schreiben wir heute „Brunft“, obwohl wir meistens immer noch nach der alten Wortbildung 'Brumft' artikulieren? In der schriftsprachlichen Sprachentwicklung mutierte der Buchstabe „m“ zuweilen zu „n“. So schrieb man im Althochdeutschen das heute aussterbende Wort „Ranft“ (Endstück eines Brotes) „ramft“, etwa 300 Jahre später im Mittelhochdeutschen „ranft“. Die Schreibung des von „ziemen“ abgeleiteten Wortes „Zunft“ begegnet im Mittelhochdeutschen nebeneinander als „zumft“ und „zunft“. Und Neuhochdeutsch schreibt man seit langem „Ankunft“, „Herkunft“ oder „Zukunft“, artikuliert aber häufig 'Ankumft', 'Herkumft' oder 'Zukumft', weil es eben leichter auszusprechen ist.
            Es deutet sich hier eine Art von Zickzackbewegung an. Nachdem die Schriftsprache die gesprochene Sprache als „Brumft“ wiedergegeben hatte, folgte sie ihrer eigenen Tendenz der sogenannten „m“-Abschwächung zu „n“: Aus  „Brumft“ wurde „Brunft“, gesprochen wurde und wird aber wohl überwiegend „Brumft“.
            Nicht nur „s“ und „f“ werden als Gleitkonsonanten bezeichnet, sondern auch „t“, ein Buchstabe, der als Fugenelement allerdings eher zur Markierung der Grenze zu einer Nachsilbe dient: „eigen-t-lich“, „namen-t-lich“, „wesen-t-lich“, abgeleitet von „Eigen“, „Namen“ und „Wesen“.
            Das „s“ fungiert nicht nur als Gleitlaut, sondern ebenfalls als Betonung der Wortfuge („Verfolgung-s-fahrt“). Davon zu unterscheiden sind die „s“-Bildungen, die eine vorangestellte Genitivform anzeigen. Drei der im Deutschen stets maskulinen Monatsnamen können als Beispiel dienen.
            Daß im Kompositum „Winter-s-zeit“ der erste Teil eine Genitivform ist (Zeit des Winters), läßt sich an einem mittelhochdeutschen Vers Walthers von der Vogelweide erweisen: „Möhte ich verslâfen des winters zît.“ In den „Meistersingern“ spielt Richard Wagner wohl auf diesen Vers an, denn in Stolzings Lied „Am stillen Herd in Winterszeit“ nennt er den mittelalterlichen Dichter als seinen Lehrer beim Erlernen der Wort- und Tonkunst: „Herr Walther von der Vogelweid', der ist mein Meister gewesen“ (in der nächsten Strophe gebraucht Wagner das Kompositum „Sommmerszeit“ als genaues Pendant). An prominenter Stelle begegnet die Bezeichnung des Winters zu Beginn des Grimms Sammlung beschließenden Märchens „Der goldene Schlüssel“: „Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag […].“
            Eine Parallele findet sich im Eingangssatz des Grimm'schen Märchens „Der Zaunkönig und der Bär“: „Zur Sommerszeit gingen einmal […].“  Das Kompositum (Zeit des Sommers) verwendet Goethe im „Wilhelm Meister“ („besonders zur Sommerszeit“) und in zahlreichen Gedichten.                  
            Das Kompositum „Frühlingszeit“ (Zeit des Frühlings) begegnet überaus häufig in der deutschen Literatur seit der Barockzeit; es sei nur die Goethe'sche Wendung im Gedicht „Meine Lieder“ erwähnt: „Dieser Tage Frühlingszeit.“
            Eine Wortbildung „Herbsteszeit“ scheint es merkwürdigerweise nicht zu geben.
            Ganz eindeutig als Fugen- und nicht als Genitiv-„s“ steht der Konsonant in zahlreichen Komposita. Daß es sich dabei nicht um einen Gleitlaut handelt, ist evident, weil er vor allen Buchstaben des Alphabets eingefügt werden kann.
            Vielleicht kann eine entsprechende Liste nicht nur der Verdeutlichung, sondern angesichts der bunten und zuweilen etwas gesuchten  Belege ein wenig der Erheiterung dienen.
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Das Fugenelement „s“ fungiert in keinem der hier vorgestellten Komposita als Gleitkonsonant, denn wie sollte er g-s-a oder g-s-w phonetisch miteinander verbinden?
            Man kann die Einfügung von Konsonanten, die nicht zum Wortstamm gehören und auch keine inhaltliche Funktion haben, nicht über einen Kamm scheren; sie haben verschiedene Herkunft und verschiedene Funktionen, so daß man gehalten ist, jeden Einzelfall gesondert zu betrachten.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022